Das Gesetz Der Woelfe
geglaubt, Sean wäre tot. Vielleicht hatte ihr jemand gesagt, dass er noch lebte, gerade noch, doch sie hatte es nicht gehört. Sie sah nur das winzige Bündel unter den Laken, das kleine weiße Gesicht mit den blauen Lippen und den nassen Haaren, die an Schläfe und Stirn klebten. Und sie fühlte einen Hass auf ihren Mann, den sie nie für möglich gehalten hatte. Später, im Krankenhaus wurde ihr klargemacht, dass Sean überleben und voraussichtlich keinen bleibenden Schaden davontragen würde. Die grenzenlose Erleichterung darüber machte sie so schwach, dass sie selbst noch eine ganze Weile im Krankenhaus bleiben musste. Und als sie entlassen wurde und in der kleinen schäbigen Wohnung stumm und mit zusammengebissenen Zähnen ihre und Seans Sachen zusammenpackte, fühlte sie sich, als wären ihr alle menschlichen Regungen abhandengekommen. Einzig der Hass auf Ian und die Vorwürfe, die sie sich selbst machte, waren übrig geblieben in einer Wüste wie nach einem Atomangriff.
Kaum war Sean transportfähig, flog sie mit ihm nach Hause zu ihren Eltern nach München. Mit Ian hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Schweigend hatten sie die wenigen Wochen bis zu ihrer Abreise nebeneinanderher gelebt. Stumm und hilflos hatte Ian zugesehen, wie Clara ihre Abreise vorbereitete, er hatte gewusst, dass es ein endgültiger Abschied werden würde. Nicht nur von Clara, sondern auch von seinem Sohn. Er hatte nicht gekämpft, nicht versucht, sich zu rechtfertigen. Er war zurückgeschreckt vor der Verachtung, die ihn aus Claras Augen traf, jedes Mal, wenn er versuchte, ein Wort an sie zu richten.
»Wir waren noch so jung«, sagte Clara plötzlich, wieder zu Willi gewandt. »Sechsundzwanzig beide und hatten schon einen vierjährigen Sohn. Wir haben es nicht auf die Reihe gekriegt.« Sie ließ den Kopf hängen und schwieg.
Sie hatte Ian viele Jahre nicht mehr gesehen. Erst mit der Zeit, als Seans Fragen nach seinem Vater immer drängender und unnachgiebiger wurden, hatte sie Ians andauernden Bemühungen, zu Sean Kontakt aufzunehmen, schweren Herzens nachgegeben. Argwöhnisch hatte sie beobachtet, wie sich zwischen den beiden so etwas wie eine Beziehung entwickelte. Die Telefonate und Briefe und Ians seltene Stippvisiten in München waren ihr ein Dorn im Auge, und als Sean mit sechzehn plötzlich keinen Bock auf seinen Vater mehr zu haben schien, konnte sie ihre Erleichterung kaum verhehlen. Doch es war alles anders gekommen. Und jetzt war ihr Sohn bei seinem Vater in Irland und wer weiß, wie lange er dort bleiben würde. Vielleicht für immer. Doch daran wollte sie nicht denken.
»Als ich damals im Flugzeug saß, mit dem weinenden Sean auf dem Schoß, der unbedingt wollte, dass sein Papa mitkam, hat mich zum ersten Mal diese Panik vor engen Räumen gepackt. Ich musste mich beherrschen, nicht aufzuspringen und hysterisch durchs Flugzeug zu laufen. Ich hatte ja meinen Sohn dabei. Ich hatte die Verantwortung für ihn. Ich durfte nicht schwach sein. Nie mehr. Verstehst du?« Sie stand schwerfällig auf und sah Willi bittend an: »Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe. Bitte verzeih mir. Ich bin es nicht gewöhnt, edle Ritter um mich zu haben.« Clara wartete Willis Antwort nicht ab. Sie drehte sich so schnell um, dass Willi gar keine Zeit hatte zu reagieren, und lief fast die Treppe hinunter und zur Tür hinaus.
Willi starrte ihr nach. Er war so gekränkt gewesen, so verletzt und hatte sich fest vorgenommen, dieses Mal sei es genug. Er hatte sich die halbe Nacht bemüht, seine Wut auf dieses kratzbürstige, unnahbare, arrogante rothaarige Wesen, das nicht einmal besonders hübsch war, zu schüren und ein für alle Mal keine anderen Gefühle für sie mehr zuzulassen. Am Morgen, als er mit Kopfschmerzen und schweren Augen aufgewacht war, war er so weit, sich eine neue Kanzlei zu suchen. Am besten eine allein zu gründen. Er und seine Bücher, das war die beste Beziehung, die es gab. Und er beschloss, mit Linda ins Kino zu gehen. Oder in eine dieser neuen Lounges, von denen sie so schwärmte.
Willi fluchte herzhaft, während er noch immer auf die geschlossene Tür starrte. Sie hatte ihm ihre Geschichte erzählt. Die Dinge, die sie immer mit sich herumtrug und nach denen er nie zu fragen gewagt hatte. Er wusste, weshalb sie es getan hatte. Es war ein Geschenk für ihn. Ein sehr wertvolles. Willi seufzte und klappte die Bayerische Kleingartenverordnung zu, die Elise gestern so gut geschmeckt hatte. Was soll’s, dachte
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