Das Gesetz Der Woelfe
alten Volvo auf dem Gehsteig vor der Tür parken, also war auch er früher gekommen als üblich. Der Knoten in ihrem Magen, der unangenehmen Dingen vorausging, machte sich wieder bemerkbar. Clara schob ihr regennasses Kinn vor und klappte energisch den Schirm zusammen. Sie hatte einen Fehler gemacht und würde sich entschuldigen. So einfach war das.
Willi hob nicht einmal den Kopf, als Clara hereinkam. Er antwortete nicht auf Claras kleinlauten Gruß, und die Teedose stand beiseitegeschoben neben einem Stapel Bücher. Clara schluckte. Einfach würde es also nicht werden. Sie hängte ihren nassen Mantel an die Garderobe und ging nach oben zu ihrem Schreibtisch. Willi starrte angestrengt in ein Buch, das seltsam zerknittert, fast wie zerbissen aussah. Clara setzte sich unglücklich. »Es tut mir leid«, wollte sie sagen, brachte es aber nicht über die Lippen. Zu deutlich war Willis Abwehr zu spüren, wie eine Wand, an der solche banalen Entschuldigungsfloskeln abprallen würden wie ein Gummiball. Clara räusperte sich unentschlossen, doch Willis einzige Reaktion bestand darin, umständlich eine wellige, zusammengeklebte Seite seines Buches zu lösen und raschelnd umzublättern.
»Ist es dir ins Klo gefallen?«, versuchte Clara einen Scherz, doch sie erntete nicht einmal einen der vernichtenden Blicke, die Willi sonst für diejenigen übrig hatte, die in Verdacht standen, eines seiner heiligen Bücher zu missachten.
Clara rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und spürte, wie sie ungeduldig wurde. Er soll sich nicht so haben, sagte eine bekannte gereizte Stimme in ihr. Er war schließlich auch nicht gerade zartfühlend, oder? Er traut dir nichts zu, er hält dich für bekloppt. Das musst du dir nicht bieten lassen, hast du doch gar nicht nötig. Los, steh auf und geh rüber zu Rita auf einen Cappuccino! Der beruhigt sich schon wieder. Doch Clara gebot der Stimme zu schweigen. Ihre üblichen Verdrängungstaktiken waren hier fehl am Platz, Willis Freundschaft war ihr zu wichtig, als dass sie ihrem Stolz jetzt nachgeben durfte. Dieses eine Mal musste sie über ihren Schatten springen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und begann leise, als spräche sie zu sich selbst: »Diese Teedose habe ich damals aus Irland mitgebracht. Mehrere Dosen. Ich habe sie gesammelt, auf Flohmärkten und so.« Keine Reaktion von ihrem Gegenüber. Doch Clara machte tapfer weiter. »Das ist jetzt fünfzehn Jahre her, und seitdem habe ich sie nie wieder angefasst, geschweige denn, den Tee verwendet.« Clara starrte auf ihre Hände, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen. An ihrem linken Ringfinger trug sie einen breiten silbernen Ring mit einem verschlungenen keltischen Knotenmuster, wie man ihn auf Märkten und in billigen Schmuckgeschäften überall kaufen konnte. Er glänzte matt, und an manchen Stellen war das Muster bereits abgewetzt. Sie wandte den Blick ab und fuhr fort: »Ian und ich … wir … egal … ich bin weggegangen, als Sean vier war.« Willi nickte, unwillkürlich, wie Clara schien. Doch immerhin eine Reaktion. »Das habe ich dir schon erzählt, ja, aber du weißt nicht, warum ich gegangen bin.« Sie unterbrach sich wieder und warf einen Blick auf Willi, der seinen Kopf noch immer gesenkt hielt, als gäbe es nichts Spannenderes, als dieses zerfressene Buch vor ihm. Es war egal, jetzt musste sie weiterreden, auch wenn es ihr unendlich schwer fiel. »Ich habe es noch nie jemanden erzählt, weißt du. Keinem einzigen Menschen.«
Clara zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief.
Es gab zwar eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen, im Büro nicht zu rauchen, aber Clara hatte soeben entschieden, dass das nicht für besondere Fälle wie diesen gelten konnte. Willi warf ihr einen überraschten Blick zu, sagte aber noch immer nichts.
»Es war nicht mehr so toll zwischen Ian und mir zu der Zeit. Ian war unterwegs, immer war er unterwegs, tage-, nächtelang, und ich war zuhause mit dem Kind. Wir hatten wenig Geld, und es gab nichts zu tun für mich. Ich fand keine Arbeit, ich habe dort nie richtig gearbeitet. Wir haben immer in Pubs gesungen, Ian und seine Band und ich. Im ganzen Land sind wir herumgezogen. Ian de Bearra & Friends .« Clara lachte verlegen. »Damit war Schluss, als Sean geboren war. Schluss für mich, nicht für Ian. Er machte weiter wie bisher, ging aus mit seinen Kumpels, trank, machte Musik. Es war alles wie bisher, anfangs, nur ohne mich. Doch mit der Zeit änderte sich etwas. Ian
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