Das Gesetz Der Woelfe
einem Ruck durchschnitt er die Fesseln des Jungen. Dann blieb nichts mehr zu tun. Nur noch das eine. In Erwartung des tödlichen Stiches senkte der Junge den Kopf. Nun konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Vor seinen Augen verschwamm die schmutzige Matratze, auf der er kniete, und die groben Erdwände seines Gefängnisses, vom Licht der Taschenlampe nur spärlich erhellt, begannen sich zu spiegeln und zu drehen. Von lautlosem Schluchzen geschüttelt, begann er zu schwanken, riss sich dann mit letzter Kraft zusammen, um nicht umzufallen. Noch nicht. Er schloss die Augen und presste den Mund fest zusammen. Als er sie eine Weile später wieder öffnete, merkte er, dass er allein war.
MÜNCHEN
Clara war wie vor den Kopf geschlagen, als sie neben dem Beamten durch die endlosen Gänge zurückging. Es schien ihm unangenehm zu sein, dass ihr in seinem Beisein das Mandat gekündigt worden war, und er warf ihr immer wieder scheue Blicke zu, versucht, etwas zu sagen, doch er schwieg. Clara war froh darüber. Sie hatte keine Lust, mit diesem jungen Kerl darüber zu sprechen und womöglich noch so etwas wie Mitleid bei ihm zu spüren. Die Situation war ihr peinlich genug. Ihre Schritte hallten, und das diffuse künstliche Licht der Deckenleuchten spiegelte sich unregelmäßig in dem ausgetretenen Linoleum. Sie gingen an zahlreichen Türen vorbei, die alle geschlossen waren, und begegneten keinem Menschen. An der Pforte verabschiedete sich der Beamte von ihr, doch Clara hielt ihn zurück. »Hören Sie …«, begann sie zögernd und suchte nach einer passenden Formulierung. »Wenn etwas … passieren sollte, informieren Sie mich bitte?« Als sie sah, wie der junge Mann erstaunt seine hellen Augenbrauen hob, fügte sie fest hinzu: »Trotzdem.« Er nickte zögernd, und sie verabschiedete sich. Dann trat sie auf die Straße hinaus. Die schwere Tür hinter ihr fiel ins Schloss. Es war vorbei. Sie konnte es nicht glauben. Aus, die Geschichte vergessen, Akte ablegen. Das war jedoch nicht möglich. Nicht auf diese Weise. Clara schüttelte den Kopf. Aber ob es ihr passte oder nicht, sie war draußen. Malafonte war nicht mehr ihr Mandant. Sie hatte es falsch angepackt. Es war ihr nicht gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen. Sie hatte versagt. Und jetzt blieb nicht mehr viel zu tun. Sie würde sich darum kümmern, dass Malafonte einen anderen Verteidiger bekam und die Akte schließen. Plötzlich meldete sich eine sanfte, verführerische Stimme zu Wort: Sei doch froh, flüsterte sie, sei doch froh, diese elende Sache los zu sein. Du musst nicht mehr Angst haben, wenn du am Abend nach Hause kommst, du brauchst kein Abwehrspray in deiner Manteltasche mit dir herumzutragen und dich nicht zehnmal umzusehen, bevor du deine Haustür aufschließt. Soll er doch allein damit fertig werden, er hat sich die Geschichte schließlich selbst eingebrockt. Und ein Teil von ihr musste Clara widerstrebend recht geben. Es war von Anfang an ein verkorkster Fall gewesen, und sie hatte nichts erreicht. Rein gar nichts. Vielleicht wäre es richtig, die Sache gut sein zu lassen und sich anderen Dingen zu widmen. Doch dann, am Ende meldete sich noch eine weitere Stimme, spöttisch, ein Echo aus längst vergangenen Teenagertagen, und traf Clara mitten ins Herz: Du kannst nicht die ganze Welt retten. Die Worte ihres Vaters. Damit pflegte er ihre Proteste, ihre flammenden Reden am Mittagstisch kategorisch abzuwürgen, mit diesem überheblichen, leicht genervten Gesichtsausdruck, den er für seine jüngste, renitente Tochter reserviert zu haben schien, die partout nicht einsehen wollte, dass es wichtigere Dinge im Leben gab als den Protest gegen Ronald Reagan und die Stationierung von Pershing-Raketen. Was glaubst du, wer du bist, implizierten seine Worte und sein Blick. Du hast doch keine Ahnung von der Welt. Letzteres stimmte sogar. Sie hatte wirklich keine Ahnung gehabt damals. Und so war dieser Satz als kleiner Stachel in ihrem Gedächtnis zurückgeblieben. Ein boshafter Hinweis darauf, wie machtlos sie war, wie wenig sie bewirken konnte und wie lächerlich sie sich machte, in ihrem Bestreben, trotzdem die Welt retten zu wollen.
In derartig trübe und sinnlose Gedanken versunken, blieb Clara stehen und zündete sich eine Zigarette an. Es war fast halb sechs, und der klare, wolkenlose Himmel wölbte sich wie durchsichtiges Glas über der Stadt. Es war kühl, und Clara knöpfte fröstelnd ihren Ledermantel zu. Die hohen Bogen der Straßenlampen
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