Das Gesetz Der Woelfe
an seinem Arm entlangkrabbelte, und zwang sich, sich nicht zu bewegen. Ein Zucken nur und er würde sich nicht mehr beruhigen. Es war ihm einmal passiert. Er hatte getobt und gestrampelt, soweit seine Fesseln es zuließen, und am Ende hatte sich die Panik auf leisen Sohlen davongemacht und ihn erschöpft zurückgelassen. Das Schlimmste daran war die Erkenntnis gewesen, dass sogar die Angst kapitulierte angesichts der Ausweglosigkeit der Situation. Nicht einmal sie war seine Verbündete. Sie stahl sich davon und ließ ihn allein zurück. Ohne Angst und ohne Hoffnung. Er kniff die Augen noch fester zusammen, so als ob er damit auch das Denken verhindern könnte.
Er war so darauf konzentriert, die Augen geschlossen zu halten, dass er zunächst gar nicht bemerkte, dass jemand kam. Erst als es plötzlich heller wurde hinter seinen Lidern, zuckte er zusammen und öffnete die Augen. Er blinzelte direkt in das grelle Licht einer Taschenlampe, die auf sein Gesicht gerichtet war. Jemand zog ihn auf die Knie und hielt ihm eine Plastikflasche mit Wasser an die Lippen. Gehorsam öffnete er den Mund. Langsam trank er, Schluck für Schluck, um sich nicht zu verschlucken oder etwas zu verschütten. War er zu hastig, war ihm schon oft die Flasche wieder weggezogen worden, bevor er genügend erwischt hatte.
»Porca miseria!« Der Ausruf kam von seinem Bewacher und erschreckte ihn zutiefst. Noch nie hatten sie auch nur ein Wort verlauten lassen. Er konnte sie nur an der Art unterscheiden, wie sie mit ihm umgingen. Dieser war der Nette, wie der Junge ihn für sich nannte, denn er ließ ihn meistens austrinken und war ruhig und bedächtig in seinen Bewegungen. Auch hatte er ihn noch nicht geschlagen. Er roch nach Zigarettenrauch und einem Rasierwasser, das ihm bekannt vorkam.
Die Flasche wurde weggezogen und auch die Taschenlampe beiseitegelegt. Instinktiv schloss der Junge wieder die Augen. Noch größer als die Angst vor der Dunkelheit war die Angst davor, einen seiner Entführer zu sehen und womöglich zu erkennen. Das wäre sein sicheres Todesurteil gewesen. Doch der Nette ging nicht weg, er hantierte mit irgendetwas herum und fluchte dabei leise. Der Junge zuckte zurück, als etwas Nasses sein Gesicht berührte, doch eine Hand hielt ihn am Hinterkopf fest. Da erkannte er, dass ihm sein Bewacher das Gesicht abwischte, und ihm fiel das Erbrochene wieder ein. Er vergaß, die Augen geschlossen zu halten, so erstaunt war er über diese ungewohnt fürsorgliche Geste, und blickte direkt in das Gesicht seines Entführers. Er sah den schmalen Kopf eines jungen Mannes vor sich, nur wenige Jahre älter als er. Um den Hals trug er eine Kette mit einem silbernen Kreuz. Er schien fast noch erschrockener zu sein als seine Geisel und reagierte überhaupt nicht. Dem Jungen zitterte die Unterlippe, doch irgendein merkwürdiger Rest von Stolz hielt ihn davon ab zu weinen. Der junge Mann, der ihm gegenüber kniete und ihm das Gesicht gewaschen hatte, war so völlig anders, als er sich seine Entführer vorgestellt hatte. Es konnte gut sein, dass er ihn schon einmal gesehen hatte, im Dorf auf der Piazza oder auf dem Motorrad, zusammen mit einer Handvoll Freunden und hübschen Mädchen. Nach einer Weile des gegenseitigen Anstarrens, das dem Jungen endlos vorkam, wandte der Mann den Blick ab. Leise fluchend kramte er in seiner Tasche herum und zog eine Packung Zigaretten und ein langes Klappmesser heraus, das er sorgfältig neben sich legte. Dem Jungen wurde kalt. Jetzt war es so weit. Er hatte sich getäuscht, als er so etwas wie Mitgefühl in den Augen des Mannes zu sehen geglaubt hatte. Jetzt würde er sterben. Würde es wehtun? Vielleicht ging es ganz schnell. Der Junge hatte einmal gesehen, wie ein Metzger einem Schaf die Halsschlagader durchtrennte und es ausbluten ließ. Das Schaf hatte keinen Mucks gemacht, nur einmal gezuckt. Vielleicht war es gar nicht so schlimm? Inzwischen hatte der Mann sich eine Zigarette angezündet und zog heftig daran. Sein Blick wanderte unruhig umher. Schließlich nahm er die Zigarette und hielt sie dem Jungen hin. Er nickte. Er rauchte noch nicht wirklich, doch hatte er es schon ein paar Mal probiert. Zuhause, im Hof hinter der großen Olivenpresse. Der Mann steckte ihm die feuchte Zigarette zwischen die Lippen, und der Junge machte einen unbeholfenen Zug. Und noch einen, dann musste er husten. Als sie die Zigarette in stummer Gemeinschaft zu Ende geraucht hatten, nahm der Mann das Messer und trat hinter ihn. Mit
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