Das Gesetz Der Woelfe
verstaute die Akten aus ihrer Tasche in der Schublade ihres Schreibtisches. Dann ging sie ins Bad und kramte aus dem alten Erste-Hilfe-Schränkchen an der Wand ein paar Pflaster heraus, mit denen sie ihre aufgeschlagenen Knie verarztete. Sie fühlte sich an ihre Kindheit erinnert, als blutige Knie und blaue Flecken an den Schienbeinen an der Tagesordnung gewesen waren und kein Grund, nicht auf einen Baum zu klettern oder Fußball zu spielen. Clara erinnerte sich, dass der Schorf, der sich dort gebildet hatte, sie besonders fasziniert hatte. Die langweiligen Schulstunden hatte sie regelmäßig damit verbracht, ihn vorsichtig abzuzupfen, vom Rand immer weiter nach innen, bis sie zu einer Stelle kam, an der die Wunde noch frisch war. Dann war Fingerspitzengefühl gefragt: Zupfte man zu forsch oder an der falschen Stelle, brach die Wunde wieder auf und fing an zu bluten. Dann musste man warten, bis sich neuer Schorf gebildet hatte.
Clara hielt mitten in der Bewegung inne, das Pflaster in der Hand. Vielleicht war es das! Vielleicht hatte sie die Sache zu direkt angepackt, hatte den Schorf zu früh und an der falschen Stelle abgerissen! Sie hätte sich vorsichtiger herantasten müssen, in Kreisen, immer um den Kern herum, jedes Mal einen Millimeter weiter. Jede direkte Frage hatte bei Angelo und auch bei Rita bisher bewirkt, dass sie sich sofort verschlossen, ihre Alltagsmaske aufgesetzt und alles Wichtige, alles Persönliche hinter einem verbindlichen Lächeln oder nichts sagenden Schulterzucken verborgen hatten. Clara hatte das bisher immer wütend gemacht. Konnten sie denn nicht verstehen, dass sie ihnen helfen wollte? Dass sie ihr vertrauen konnten? Doch plötzlich, während sie hier in ihrem kleinen Kanzleibad auf dem Toilettensitz saß und ihre verletzten Knie betrachtete, verschob sich ihr Blickwinkel, und sie erkannte, dass es nicht so war, wie sie es empfand. Was wusste sie schon von Rita, Angelo, Massimo Moro und Gaetano Barletta? Nicht das Geringste. Von Rita, die sie am längsten und am besten zu kennen glaubte, wusste sie nur, dass sie allein lebte, und das auch nur, weil sie keine Gelegenheit ausließ zu betonen, dass sie es gern tat. Sie hatte zwei erwachsene Kinder, die Clara nur vom Sehen kannte. Sabrina, eine etwas mollige junge Frau mit rabenschwarzen dichten Haaren und einem schüchternen Lächeln war Friseuse, Giacomo, der ältere der beiden, studierte Maschinenbau und war der ganze Stolz Ritas. Clara hatte nie nach dem Vater der beiden gefragt und ob Rita verheiratet gewesen war. Sicher, man könnte sich einreden, solche Fragen wären unhöflich und indiskret, aber Clara war ehrlich genug zuzugeben, dass sie sich nie darüber Gedanken gemacht hatte. Sie hatte nie wissen wollen, was Rita bewogen hatte, mit zwei Kleinkindern aus Kalabrien nach Deutschland zu kommen und ein Café aufzumachen. Sie hatte sich nie dafür interessiert, ob Rita sich hier wohl fühlte, ob sie Freunde hatte und wie ihr Leben außerhalb des Cafés aussah. Sie war einfach Rita. Eine der vielen Italiener in München, die man als ganz selbstverständlich ansah und bei denen man sich bei einem Cappuccino die tägliche Portion Italienurlaubsgefühl kaufte wie die Butter und Wurst im Supermarkt. Und plötzlich, wenn man tiefer in ihre Welt eintauchen musste, rannte man gegen Wände und war - gutmenschlich naiv - beleidigt, weil sie sich nicht helfen lassen wollten. Ohne zu wissen, ob man überhaupt helfen konnte, ob es überhaupt möglich war, eine Lösung zu finden. Oder ob die Kluft trotz allem viel zu groß war.
Clara klebte das zweite Pflaster auf das andere Knie und stand auf. Die Hose war nicht mehr zu retten. Sie war nicht nur schmutzig, sondern auch zerrissen. Sie würde sie wegwerfen müssen. Aber eines würde sie nicht tun: Selbst wenn es der bescheuertste, lächerlichste, naivste Weltrettungsversuch ihres ganzen Lebens werden sollte, würde sie jetzt nicht aufgeben. Sie würde Angelos Mandatskündigung nicht hinnehmen, solange sie nicht verstand, was dahintersteckte. Und es hatte noch einen anderen, viel konkreteren Grund, weshalb sie jetzt nicht aufhören konnte, selbst wenn sie wollte: Niemand hatte Barletta darüber informiert, dass sie nicht mehr Angelos Anwältin war. Clara hatte auch keine Ahnung, wie und wann er es erfahren könnte. Und sie bezweifelte überdies, dass es etwas nützte, falls man es ihm sagte. Er schien zu glauben, dass Clara mehr wusste, als sie tatsächlich tat, und deshalb versuchte er, sie
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