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Das Gesetz Der Woelfe

Titel: Das Gesetz Der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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nicht preiszugeben. Er hatte keine Sekunde darüber nachgedacht. Später, viel später, als ihm bewusst wurde, was das bedeutete, war ihm kalt geworden. War das Gesetz des Schweigens so mächtig, dass es sogar diejenigen zu binden vermochte, die allen Grund hatten, Zuflucht bei der staatlichen Gewalt zu suchen? Oder war es nur die pure Angst gewesen, die ihn stumm werden ließ? Er konnte diese Frage auch heute nicht beantworten. Aber jetzt war es auch egal, denn was auch immer ihn veranlasst haben mochte zu schweigen, jetzt war es nicht mehr stark genug, seinen Willen zu beeinflussen. Er war ausgebrochen. Sein Wille war stärker, als sie alle geglaubt hatten. Und deshalb machte er sich jetzt noch einmal auf den Weg.
     
    Oben auf dem Berg blies ein heftiger Wind. Hier war von Frühling noch nichts zu spüren. Die verfallene Kate lag hinter der runden, kahlen Kuppe, über die der Wind ungehindert fegte. Seit Jahrhunderten. Filippo blieb einen Moment stehen, am höchsten Punkt. Dann drehte er sich um und sah hinunter in das Tal, das von den Einheimischen Valle Sorda , taubes Tal, genannt wurde. Es hieß vermutlich so, weil nicht einmal der ewige Wind des Berges hinuntergelangte auf den Boden dieses lang gestreckten, einsamen Tals, das an seinem Ende so schmal wurde, dass es von oben wie eine Furche oder eine Felsspalte wirkte. Kein Mensch hatte sich je hier angesiedelt. Keine Spur einer Behausung. Bis auf die winzige Kate, die im Windschatten der Bergkuppe wie eine Wächterin auf das Valle Sorda hinunterblickte. Wer hier wohl einmal sein Dasein gefristet haben mochte? Jedenfalls hatte er sich die Mühe gemacht, ein tiefes Loch in das spröde Erdreich zu graben, einen Keller, einen Stall. Spätere Besucher hatten dessen besondere Lage zu schätzen gewusst, eine starke Bohlentür angebracht und es in ein Gefängnis verwandelt. Fast drei Monate war es Filippos Verlies gewesen, und er konnte sich auch jetzt nur mit äußerster Überwindung der dunklen Holztür nähern. Sie stand offen. Ein schwarzes lichtloses Loch gähnte dahinter. Sicher wagte nicht einmal er es, diesen Platz noch einmal zu benutzen. Zu riskant. Immerhin war einer entkommen und hatte den Weg hinunter nach San Sebastiano gefunden. Und wieder zurück.
    Obwohl Filippo zu fühlen glaubte, dass er der einzige Mensch im Umkreis von zehn Kilometern war, bewegte er sich mit äußerster Vorsicht. Zu tief saß noch die Angst vor diesem Ort. Die Kate hatte den letzten Winter nicht gut überstanden. Etliche Steine lagen auf dem Boden, die letztes Jahr noch nicht da gewesen waren. Achtsam ging Filippo um sie herum. Jetzt zu stolpern und sich einen Fuß zu verstauchen, wäre ein unvorstellbares Missgeschick. Wenige Meter vor der Kellertür blieb er stehen und holte die Kamera seines Vaters aus dem Rucksack. Liebevoll strich er über das schwarze Gehäuse und ließ seine Finger über den Auslöser gleiten. Ein prüfender Blick durch das Objektiv, Belichtungszeit und Blende einstellen, wie er es gelesen hatte. Andere Fotos als die einer Digitalkamera würden es werden. Keine dummen kleinen Pixelbilder, die man auf Handys verschicken und jederzeit mit einem Klick verschwinden lassen konnte. Es würden echte Fotografien werden. Entlarvende Bilder, die die Wahrheit zeigten und die nicht mehr gelöscht werden konnten. Echte Journalistenfotos wie die seines Vaters. Er drückte den Auslöser. Klick. Dann ging er auf die Knie, stellte die Schärfe ein und drückte wieder. Klick, Klick. Klick. Er ging ein paar Schritte auf das Loch zu und zog die starke Taschenlampe seiner Großmutter aus dem Rucksack. Ein paar Mal knipste er sie zur Kontrolle an und aus, bevor er noch einmal tief durchatmete und forschen Schrittes den Ort betrat, an dem er gelitten hatte wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Er trat ein, und der Geruch nach Erde und Moder empfing ihn wie ein alter Bekannter. Vertraut, unerträglich vertraut aus seinen Träumen, die ihn niemals losgelassen hatten, seit jenem Tag im vergangenen Sommer, diesem staubigen, heißen Tag, als sie ihn gepackt hatten auf dem Schulweg, und ins Auto gezerrt. Die Zeit schien ihm zu entgleiten, während er zitternd vor Kälte und Angst ein paar Schritte weiter hinein in das Erdloch ging. Hastig warf er einen Blick zurück, vergewisserte sich, dass die Tür noch offen stand. Er konnte den Himmel sehen, graugelb wie Sand, und hörte den Wind, der in raschelnden Böen in die trockenen Grasbüschel vor dem Eingang fuhr. Filippo blieb stehen

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