Das Gesetz Der Woelfe
hat.« Sie hörte, wie flehend ihre Stimme klang.
Rita sah sie an, und ihre Augen waren voller Bedauern, doch sie schüttelte den Kopf. »Versteh mich doch! Ich habe zwei Kinder!«
Clara dachte an Sean und an ihr Gefühl, ihn immer und unbedingt vor allem beschützen zu wollen und nickte vage. Ein Teil von ihr glaubte, Rita zu verstehen, aber der andere Teil verstand überhaupt nichts und war wütend darüber. Warum redete verdammt noch mal niemand Klartext mit ihr? Sie klappte den Mund auf, um etwas zu entgegnen, aber dann fiel ihr der Schorf an den Knien ihrer Kinderzeit wieder ein, und sie sagte nichts. Schweigend betrachtete sie Rita und versuchte, sie mit anderen Augen zu sehen als bisher. Sie sah die blondgefärbten Haare, ihr Bemühen, jugendlich zu sein, und ihre müden Augen und die Schatten darunter. Ihre Hände mit den rot lackierten Fingernägeln waren die faltigen, fleckigen Hände einer Frau im reifen Alter, die in ihrem Leben viel gearbeitet hatte, darüber konnten auch die Ringe und modischen Bänder am Handgelenk nicht hinwegtäuschen. »Wie geht es Sabrina und Giacomo?«, fragte Clara.
Ritas Augen leuchteten für einen Moment auf. »Oh, gut. Giacomo hat bald seinen Abschluss. Vielleicht im nächsten Jahr. Und Sabrina wird sich verloben, Ende Mai. »
»Wie schön! Wer ist denn der Glückliche?«
»Er heißt Fabio. Kommt aus Trient und arbeitet hier in München in einer großen Firma. Ein netter, tüchtiger Mann. Und sehr schön!« Rita lachte und machte eine Handbewegung, die andeuten sollte, wie hochgewachsen und attraktiv Fabio aus Trient war.
Clara empfand aus einem unerklärlichen Grund Trauer bei der Vorstellung, dass Sabrina diesen Fabio heiraten sollte. Sie sollte sich freuen für die junge Frau und für Rita, die bei dem Gedanken daran strahlte. Clara lächelte und neckte Rita mit lustigen Kommentaren zu ihrem schönen Schwiegersohn und den hoffentlich zahlreichen Enkeln, und trotzdem machte sie diese Neuigkeit seltsam wehmütig, obwohl sie Ritas Tochter kaum kannte. Irgendwann würde Sabrina mit ihrem Mann nach Italien zurückgehen, nach Trient oder in eine andere italienische Stadt, und dort leben und arbeiten. Sie wusste überhaupt nichts von Sabrina, ihren Hoffnungen und Ängsten. Und trotzdem fühlte sie diese unerklärliche Trauer um sie, als habe das Mädchen etwas verloren mit dieser Aussicht auf eine baldige Heirat, eine Chance, von der sie vielleicht gar nicht wusste, dass sie sie besessen hatte.
Clara zündete sich eine Zigarette an. »Was ist eigentlich mit Sabrinas und Giacomos Vater?«, fragte sie.
Ritas Gesicht verschloss sich augenblicklich. »Er ist tot«, sagte sie knapp und sah Clara dabei nicht an. »Seit dreiundzwanzig Jahren schon.«
»Das tut mir leid.« Clara hasste solche Gemeinplätze, aber was gab es anderes zu sagen? Manchmal blieben nur solche banalen Floskeln oder aber - Schweigen. Sie rechnete zurück: Vor dreiundzwanzig Jahren war Sabrina ungefähr ein und Giacomo vier Jahre alt gewesen. Unmittelbar danach musste Rita nach München gekommen sein. »Es muss sehr hart für dich gewesen sein allein mit den Kindern.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Als ich Seans Vater verlassen hatte, war das sehr schlimm für ihn. Er war damals erst vier und konnte es nicht begreifen. Für ihn war es so, als wäre Ian gestorben, als würde er ihn nie wiedersehen. Erst mit der Zeit hat er begriffen, dass es nicht so war. Dass sein Vater noch lebte.« Clara war erstaunt über die unerwartete Welle der Erleichterung, die sie bei diesen Worten erfasste. Sie hatte Ian mehr als einmal den Tod gewünscht, wenn auch nur aus einer Art hilflosen Wut auf sich selbst heraus, weil sie unfähig war, die Gespenster hinter sich zu lassen, loszulassen und - vielleicht - irgendwann einmal zu verzeihen. Solange Ian am Leben war, würde sie gefangen bleiben in ihren Gefühlen, ihrer Wut und ihrer Angst, Sean zu verlieren. So hatte sie es lange Zeit gesehen. Irgendwann in all den Jahren war der Abstand dann größer geworden und der Hass verblasst. Und in den letzten Wochen war sie plötzlich gezwungen worden zu erkennen, dass Ian mit ihrer Angst womöglich gar nichts mehr zu tun hatte, dass es an ihr selbst lag loszulassen, auch wenn es viel bequemer war, die Schuld auf jemand anderen zu schieben, noch dazu, wenn man diesen Jemand mit Fug und Recht für eine alte Geschichte verantwortlich machen konnte, die man selbst nie verwunden hatte. Clara schüttelte heftig den Kopf, als
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