Das Gesetz Der Woelfe
könnte sie damit diese ungebetenen Wahrheiten, die sich ihr mit einem Mal aufdrängten, abschütteln. »Wie?« Sie wandte sich wieder Rita zu, die etwas erwidert hatte. »Entschuldige, ich habe nicht richtig zugehört.«
Etwas in Ritas Haltung war verändert, und auch ihr Blick war anders als noch gerade eben, offener, nicht mehr so nach innen gerichtet. Sie schenkte sich und Clara Wein nach und betrachtete dann eingehend die schlanke Zigarette in ihren schwieligen Händen. »Mein Mann wurde ermordet«, sagte sie heiser, und es klang so, als ob sie diesen Satz noch nie gesagt hätte. Sie räusperte sich und wandte für einen Augenblick das Gesicht ab.
Clara starrte sie an und wagte es nicht, ein Wort zu sagen. Aus Angst, Rita zu unterbrechen, oder aber aus Angst davor, was sie zu hören bekäme, das vermochte sie nicht zu unterscheiden. Stumm nahm sie ihr Glas, während Rita langsam fortfuhr.
»Clemente war zweiunddreißig, ich drei Jahre jünger. Wir waren schon ein paar Jahre verheiratet, Giacomo war fast drei. Kurz bevor Sabrina zur Welt kam, zogen wir aus Neapel, wo wir gearbeitet und gewohnt hatten, zurück in unsere Heimatstadt in Kalabrien. San Sebastiano ist eine kleine Stadt am Rande des Aspromonte, hoch über dem Meer. Eine gute halbe Stunde von Reggio di Calabria entfernt. Wir dachten, wir hätten genug Abstand zu … all dem gewonnen. Wir dachten, wir wären frei genug. Stark genug.« Sie schüttelte den Kopf und sprach nicht weiter. In Gedanken versunken ließ sie ihren Blick durch das kleine Lokal schweifen, über die Bistrotische und zierlichen Stühle, und blieb an den beiden Spielautomaten in der Ecke, auf dem Flur zu den Toiletten hängen. Sie blinkten unablässig, vergeblich zum Spiel auffordernd. »Wir hatten uns getäuscht. Clemente verlor die Arbeit, die er angenommen hatte, als wir umgezogen waren, ziemlich schnell wieder. Er fand nichts Neues mehr. Nicht in dieser Gegend. Wir überlegten, ob wir wieder weggehen sollten. Aber wir hatten das Haus dort, für das wir so eisern gespart hatten. Unsere Eltern, Freunde, die Familie. Und irgendwann stand einer seiner alten Kumpel vor der Tür. Er trug einen schicken Anzug, fuhr ein tolles Auto. Er lud uns zu sich nach Hause ein. Besorgte Clemente neue Arbeit bei einer Bank. Eine ordentliche Arbeit. Er verdiente viel mehr als früher. Wir hätten es gut haben können. Aber es war nicht so. Clemente veränderte sich. Er wurde reizbar und misstrauisch. Er zog sich zurück von mir und all unseren alten Freunden. Ich erfuhr nichts mehr von ihm, ich wusste nicht, wohin er abends ging, wenn die Kinder im Bett waren, konnte nicht mehr fühlen, was ihn bewegte. Oft wenn ich in der Nacht aufwachte, lag er nicht neben mir. Einmal stand ich auf und fand ihn in der Küche. Er saß dort am Tisch und weinte. Ich war so erschrocken, noch nie hatte ich meinen Mann weinen sehen. Ich setzte mich zu ihm und wartete. Da begann er zu erzählen. Von den Büchern, die sie ihm gaben, um sie zu manipulieren. Von den Geldern, die er auf irgendwelche Konten transferierte. ›Was für Gelder?‹, fragte ich, naiv wie ich war. Er sah mich an und in seinen Augen lag eine abgrundtiefe Abscheu vor sich selbst: ›Drogenhandel, Menschenhandel. Solche Gelder. ‹ Ich weiß noch, wie mir kalt wurde bei diesen Worten, oder mehr noch, bei seinem Blick. Wir redeten an diesem Abend nicht mehr weiter. Wir redeten überhaupt nicht mehr darüber. Ich glaube, wir hätten es nicht ertragen. Doch ich wusste auch so, dass er es nicht mehr lange aushalten würde. Clemente war kein Verbrecher. Er war zu aufrichtig, um so etwas lange durchzuhalten. Er wusste es auch. Und eines Tages, wir waren schon zu Bett gegangen, die Kinder schliefen längst, sagte er, einfach so, in die Dunkelheit hinein: ›Ich kann nicht mehr, Rita. Morgen gehe ich zur Polizei. Ich werde ihnen alles sagen, was ich weiß.‹
Was hätte ich sagen sollen? Hätte ich ihn davon abhalten sollen? Ihn zwingen sollen weiterzumachen?« Rita seufzte und trank ihren Wein mit einem heftigen Schluck aus. Dann fuhr sie fort: »Er hat es wirklich getan. Er ist zur Polizei nach Catanzaro gefahren mit all seinen Büchern, Konten, Daten, Zahlen. Er hat ihnen alles gesagt. Sie sind auch gekommen. Die Guardia di finanza hat ein paar Firmen überprüft, ein paar Akten beschlagnahmt, und die Bank hat Clemente entlassen. Festgenommen wurde niemand. Und für uns begann die Zeit des Wartens.«
Clara hob erstaunt die Augenbrauen und fragte,
Weitere Kostenlose Bücher