Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
Vom Netzwerk:
kürzester Zeit freilich wieder beseitigt werde. Doch am Horizont flammten nachts unablässig Artillerie-Mündungsfeuer auf. Den Mitarbeitern der Außen-Erfassungsstellen, soweit in Hartlieb verblieben, schien es ratsam, ihre Dienststelle westwärts auszulagern. Für eine erneute Evakuierung der Dienststellen war allerdings nicht vorgesorgt, Transportmittel standen nicht zur Verfügung. Typisch für den Engpass: Die Parteidienststelle Baustab beschlagnahmte einen endlich doch eintreffenden Lastwagen, okkupierte ihn für den Abtransport von Getränken und Vorräten.
    Durcheinander, Ratlosigkeit. Offen blieb, ob ein angekündigter Sonderzug tatsächlich eintreffen würde. Die Mehrheit der FA -Mitarbeiter war mehr als skeptisch; Schlitten wurden konfisziert und mit Privatbesitz beladen, die Männer zogen los, gefolgt von Frauen, die sich mittlerweile eingefunden hatten und sich aus Angst vor Übergriffen des Iwan in Sicherheit bringen wollten. Einige Männer schoben schwerbeladene Fahrräder durch den Schnee.
    Der Trupp wurde eingeholt von einem berittenen Boten, der zur Rückkehr aufforderte, der Sonderzug stehe in Breslau-Hartlieb abfahrbereit. Nur ein Teil der Flüchtenden kehrte nach Breslau zurück.
    Dort stellte sich heraus: Es handelte sich um einen Zug von Güterwagen, die vorher Kohle geladen hatten. Und der Lokführer hatte sich abgesetzt. Ein anderer Lokführer traf einen Tag später ein. Der Zug fuhr ab, erreichte nach 28 Stunden Berlin.
    Die Mitarbeiter mit schwerbeladenen Rodelschlitten und vollgehängten Fahrrädern brauchten länger. Man war dankbar für ein ausnahmsweise nicht völlig ausgelastetes Pferdefuhrwerk eines Flüchtlingstrecks, dem man sich anschloss.
    Einer unserer Mitarbeiter (Karteiauswerter) hat, sogar im Treck, das Tagebuch weitergeführt; ich durfte Einblick nehmen in die Aufzeichnungen, gebe stichwortartig wieder, was für unsere Dokumentation relevant sein dürfte.
    Ein Leiterwagen mit Eisenreifen rutscht in den Straßengraben ab … Lattenzäune abreißen, Feuer machen … In einer Konservenbüchse Schnee schmelzen: Trinkwasser … Eine Frau zeigt eine Handvoll Erde, in verknotetem Taschentuch mitgeführt … Übernachten in einem überfüllten Gasthof; zu zweit einen Stuhl teilen, abwechselnd … Erkältete Flüchtlinge, Hustengebell wie in einem Hundezwinger … Alter Mann in einem Kastenwagen, Bein in Gips …
    (»Kein Grund zur Besorgnis, mit einer Wendung der Dinge ist in Kürze zu rechnen.«)
    Entzündete Füße, zu lang nicht mehr aus dem Schuhwerk rausgekommen … Milchkanne mit Salzfleisch … Ein Panzerspähwagen mit einem Schwein hintendrauf, hartgefroren – die Besatzung brät Batzen mit dem Lötkolben …
    (»Was quatschen Sie denn da?! Sie haben wohl Fieber, 44 Grad, wie?! Schaun Sie zu, dass Sie warme Füße und einen kalten Kopf bewahren!«)
    Der Eisenreifen eines Karrenrades löst sich, eine Deichsel bricht, ein Rad birst … Frisch geborenes, totes Kalb, Kuh muhend daneben … Leichen vor einer Kirchentür abgelegt, Taschentücher über den Gesichtern … Kindern werden erfrorene Füße mit Schnee eingerieben … Koffer, Betten, Schreibmaschinen, eine Kiste mit Waschpulver abgeworfen am Pistenrand … In einer Stallung verlaustes Stroh … Ächzend, schluchzend schiebt eine Frau einen Kinderwagen durch den Schnee … Ein altes Feuerwehrauto, total überladen …
    (»Die neuen Waffen werden uns heraushauen!«)
    In Gegenrichtung ein Panzerbekämpfungstrupp des Volkssturms, alle Mann um die sechzig … Ein Beinamputierter einer Genesenenkompanie soll mit der Panzerfaust einen T 34 erledigt haben …
    (»Gott, wir paar Mann, was können wir noch machen.«)
    Mit der Brechstange eine Kartoffelmiete aufstemmen, hartgefrorne Kartoffeln im Mund aufweichen … Eine Bäuerin am Stock, schwer Rheuma und sechs Kinder … Aus einem Haus das Gröhlen von Männern: Teil einer Urlauberkompanie … In einer Kirche wird Chorgestühl mit Äxten zusammengehauen: Platz schaffen für Verwundete … Alte Frau, die nur ein Handtäschchen mit sich führt … Herumirrende Pferde, winselnde Hunde, brüllende Kühe, die Euter blutig, eiternd …
    (»Ich erwarte in Kürze Meldung, dass Sie einige von diesen Defaitisten über den Haufen geschossen haben!«
    »Aber hier im Dorf sind doch nur Frauen und Kinder!«
    »Dann sollen die eben die Häuser verteidigen!«)
    In Gegenrichtung des Trecks zwei Mann der Wehrersatzinspektion, unterwegs mit dem Auftrag: Pferdemusterung … Hinkender Greis auf

Weitere Kostenlose Bücher