Das Gesetz des Irrsinns
einen Schrank schieben können. Eine Frau, deren Augenbrauen und Wimpern weggesengt, deren Hose bis über die Knie weggebrannt war, Phosphor unter den Schuhsohlen. Meterhohe Flamme aus einer zerstörten Gasleitung. Eine Frau schlug mit nasser Gardine auf Flammen ein. Alter Mann stopfte einem tierisch brüllenden Jungen Binden in den aufgefetzten Bauch.
Trotz allem: Erweiterung des Faszikels D r G / VH . Vom Bunker des RMVP aus telefonierte G. mit Harlan. Stichwort: Uraufführung des nun fertiggestellten, genehmigten, freigegebenen Kolberg-Films.
Von Goebbels ursprünglich geplant: Die Uraufführung des Films findet statt in der Festungsstadt Kolberg. Lässt sich nicht realisieren, Kolberg ist total überfüllt: Mehr als 50000 treckende Volksgenossen halten sich vorübergehend in der Stadt auf; kranke Zivilisten, verwundete Soldaten sollen vorrangig auf Schiffen evakuiert werden.
So wird der Film in einer anderen Stadtfestung zur Uraufführung gelangen, und zwar in La Rochelle. G. will die Filmrollen in einer Fallschirm-Versorgungsbombe über dem U-Boot-Großbunker abwerfen lassen.
Auf dem mehrfach bombardierten Flugplatz Gatow indes war keine Maschine einsatzbereit – bis auf den von Göring in Beschlag genommenen Fernaufklärer, der Original-Requisite. Nach einem Telefonat zwischen Wilhelmplatz und Schorfheide wurde die »Ausnahmegenehmigung« zum Einsatz der Do 217 erteilt. Zugleich erklärte RM allerdings, für die Versorgung der Maschine mit Treibstoff könne er nicht geradestehn.
Goebbels, aufbrausend: Soll das ganze Unternehmen etwa an dem bisschen Sprit scheitern?!
Was heißt hier: bisschen Sprit? Der Flug muss über das gesamte, von den Alliierten besetzte Frankreich hinwegführen bis zur Westküste! Und zurück. Und zurück!
Goebbels: Aber es gibt doch Treibstoffreserven in Gatow!
Ja, gibt es. Sind aber ausschließlich den Nachtjägern vorbehalten.
Die gelangen sowieso kaum mehr zum Einsatz. Also lässt sich über das Benzin verfügen.
Wollen Sie das persönlich umpumpen?
Es ist nicht die Zeit für Sottisen, Herr Reichsmarschall. Die unendlichen Mühen, die der Film gefordert hat, der gigantische Aufwand, das alles darf nicht vertan, nicht vergeudet sein. Eine Uraufführung hier in Berlin ist in angemessenem Rahmen nicht mehr möglich, wir können höchstens noch ins lädierte Tauentzien-Palais ausweichen. Die Uraufführung in der Atlantikfestung La Rochelle ist zurzeit die einzige Lösung. Dort gibt es sicherlich noch ein funktionsfähiges Kino, die Stadt wurde ja kaum bombardiert. Bezüglich Abwurf über La Rochelle bleibt nur zu hoffen, dass der Fallschirm nicht von einem der Westwinde zu den Belagerungstruppen verweht wird. Von diesem Risiko lassen wir uns nicht abschrecken.
So wurde schließlich doch Treibstoff freigegeben für den Flug der Do 217 nach La Rochelle. Ein äußerst riskantes Unternehmen, wie der Amtsleiter als erfahrener Pilot beim Abzeichnen des Abhörprotokolls anmerkte. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass »Dora« unter Beschuss gerät. Also bleibt der Besatzung nur Tiefstflug über Kirchtürme und Baumwipfel hinweg, und das auf der gesamten Strecke. Clemens Prinz von Hessen-Nassau: »Also, ich möchte nicht in der Maschine sitzen! Reines Himmelfahrtskommando!«
Lieber Bor, um RM den Verlust seines Jagdhauses an der Kurischen Nehrung, sodann des Jagdsitzes in Rominten und die technisch kurzfristig verzögerte, nun wohl unmitttelbar bevorstehende Aufgabe und Sprengung von Carinhall zu versüßen, solltest Du ihm (in eventuell geeigneter Stunde) berichten, dass die Uraufführung des Kolberg-Films in La Rochelle höchstwahrscheinlich gar nicht stattfand.
Die Versorgungsbombe mit den Filmrollen wurde offenbar punktgenau abgeworfen. Vom RMVP wurde ein propagandistischer, vom Festungskommandanten ein martialischer Funkspruch gesendet. Das wars wohl schon. Denn: es dürfte mehr als nur Gerücht sein, dass Festungskommandant Schirlitz bereits vor Monaten mit dem Befehlshaber der französischen Belagerungstruppen einen geheimen Waffenstillstand geschlossen hat, dort schweigen also längst die Waffen. So wird man die Filmrollen stillschweigend beiseitegelegt haben: die Uraufführung bleibt Fiktion.
Na, und die Erstaufführung hier in der Trümmerwüste, den Tag später, im demolierten Palais Tauentzien: eher ein Schuss in den Ofen. Wenn es so weitergeht, rückläufig, rückläufig, gelangt der Film eventuell in einem lokalen Offizierscasino der Roten Armee zur Aufführung.
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