Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
befindet.«
Die beiden kleinen Mädchen verbeugten sich tief. Suvaïdar antwortete mit einem kurzen Kopfnicken und ging dann geradewegs zum Haus. Sie überprüfte ihr Äußeres, indem sie ihr Spiegelbild in einem Fenster betrachtete. Ihr Gesicht war rot und geschwollen und es zeigte große Punkte vom Nähen mit der Nadel sowie Spuren von Blut, das über ihre Wange gelaufen war.
Suvaïdar machte sich auf den Nachhauseweg. Dabei überquertesie eine der kleinen Kanalbrücken. Diese beschrieb einen Halbkreis rund um das Anwesen, in dem sich die Wassergruben befanden, die in der Trockenzeit das Wasser für die Obst- und Gemüseplantagen lieferten.
Suvaïdar seufzte tief, als sie daran dachte, dass sie Rasser einen Besuch zugesagt hatte. Schon in drei Tagen war der Termin. Außerdem hatte sie keine Lust, an diesem Abend noch auf ein Mitglied aus dem Huang-Clan zu treffen, geschweige denn, irgendeinen Shiro zu treffen, der meinte, einen besonders intelligenten Kommentar abgeben und sie von oben herab betrachten zu müssen. Und Oda hatte mittlerweile angefangen, ihr gegenüber den Beschützer zu spielen; er würde ihr ganz sicher in ihr Zimmer folgen, um ihr einen Haufen Fragen zu stellen. Auch darauf hatte sie jetzt keine Lust. Deshalb hielt sie in den Schatten, was nicht weiter schwer war, weil die wenigen Lampen meist die Fenster beleuchteten.
Es gelang ihr, das Haus der Huangs zu erreichen, ohne dass jemand sie gesehen hatte, und unbemerkt in den Schlaftrakt des Clan-Hauses zu schleichen. Sie hatte Hunger und Durst, doch um an eine Tasse Tee oder ein Glas Wein und eine warme Mahlzeit zu kommen, hätte sie zu den Küchen gemusst. Dort wäre sie mit Sicherheit ein paar Dutzend Huangs jeden Alters begegnet, die wie sie in die Küchen gegangen waren, weil sie etwas zu essen und zu trinken haben wollten.
Suvaïdar zögerte kurz. Dann öffnete sie das Fenster und schaute nach, ob jemand sich in Nähe aufhielt, der sie sehen könnte. Sollte jemand sie beobachten, würde er wahrscheinlich denken, sie sei eine Heranwachsende, die vor ihrem Tutor ausreißen wollte.
Suvaïdar setzte sich auf die Fensterbank, schwang die Beine auf die andere Seite und sprang ins Freie. Die Höhe war gering, dann das Haus lag ebenerdig zu den Gärten.
Ruhigen Schrittes ging sie durch den Obstgarten, der sich zwischen diesem Flügel und dem Bau an der Nordseite des Gebäudes erstreckte. Hier standen die provisorischen Hütten, in denen Asix lebten, die auf der Durchreise waren. Außerdem hielten sich hier die Jungen auf, die es vorzogen, ihre Abende in einer weniger formellen Umgebung als im Gemeinschaftssaal des Clan-Hauses zu verbringen. Viele aus dem Huang-Clan zogen diese Hütten vor, denn die traditionsbewusste Odavaïdar ließ in ihrem Haus eine eisige, erstickende Etikette walten. Wenn die Jahreszeiten wechselten, wurden diese provisorischen Hütten jedes Jahr aufs Neue von den schweren Stürmen beschädigt oder niedergerissen, doch man baute sie je nach Bedarf wieder auf.
Jetzt, im zehnten Monat der Regenzeit, standen hier an die fünfzig Hütten. Sie bildeten beinahe schon ein kleines Dorf, bewohnt von einer wechselnden Zahl an Leuten, die ständig unterwegs waren.
Suvaïdar ging auf die Hütten zu, die gegenüber der Mauer des Obstgartens standen, und schärfte im Halbdunkel ihren Blick. Das einzige Licht fiel durch ein paar Zweige der Ölpflanzen, aus denen man das Öl für die Lampen gewann. Sie wurden auch in Töpfe gepflanzt, die man dann an Wegkreuzungen aufstellte. Die Pflanze besaß ein ölhaltiges Holz, das mehr Rauch als Licht abgab, doch für die Augen der Asix reichte das vollkommen.
Seitdem sie die DNA -Hologramme in den Laboren von Maria Jestak gesehen hatte, hatte Suvaïdar keine Nacht mehr mit einem Asix verbracht. Der Gedanke, sich einzig und allein unter dem Einfluss einer Konditionierung ihrer Gene so zu verhalten, hatte sie beunruhigt. Sie war erleichtert, dass wenigstens in den Häusern der Asix eine entspannte Atmosphäre herrschte, die so ganz anders war als die Stimmung im Gemeinschaftssaal des Clan-Hauses.
Aus den Hütten erklangen Stimmen, Lachen und das Klirren von lackierten Holzschalen. Ab und zu begrüßte sie jemand, und Suvaïdar grüßte zurück, selbst wenn sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wem sie da gerade begegnet war.
Sie erreichte schließlich die Hütte von Saïkin, ein junger Mann, mit dem sie bereits ihre Matte geteilt hatte. Sie rief seinen Namen.
»Komm herein, meine Dame, komm.
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