Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
»und ich denke, wir sollten alles Weitere vor dem Rat diskutieren.«
Ohne den Blick zu senken, schaute sie die Mitglieder des Clans an. Langsam begriffen auch die weniger Aufgeweckten, was sich hinter Suvaïdars Aussagen verbarg. Néko hatte sich in der Nacht um Middael gekümmert. Er war noch am Leben, denn sie hatte ihm nicht allzu sehr zugesetzt. Doch die eiskalten Augen desjungen Mädchens hatten ihn zweifellos in Angst und Schrecken versetzt – ihn, der auf so niederträchtige Weise versucht hatte, Suvaïdar zu töten, indem er sie aus dem Hinterhalt angriff. Middael würde alles bezeugen, was er wusste, das hatte Néko ihr garantiert. Ob der Clan ihm glauben würde oder nicht, war eine andere Geschichte.
Die Kinder und die Jugendlichen verließen rasch den Gemeinschaftssaal. Sie riefen die anderen Erwachsenen zusammen, die im Haus wohnten. Anschließend würden sie im Freien darauf warten, dass man ihnen Bescheid gab, wer die nächste Saz Adaï geworden war.
Die Verwalterin sprach den üblichen Satz aus: »Die erwachsenen Asix, die bleiben möchten, dürfen dies tun.«
Doch die Asix hatten sich bereits allesamt in der Nähe der Türen versammelt. Sie nahmen zwar an den Sitzungen teil, wenn der Rat Fragen der Viehzucht oder der Saat diskutierte; dieses Mal aber handelte es sich um »Dinge der Shiro«, wie sie es untereinander nannten. Und sie zogen es vor, so wenig wie möglich davon mitzubekommen. Es war zu vermuten, sogar sehr wahrscheinlich, dass eine Sitzung wie diese mit einer Reihe von Herausforderungen zum Duell enden würde, selbst eine Verurteilung zum Tod war möglich.
Im Gewühl gelang es Suvaïdar, sich Oda zu nähern, der sie mit großen Augen betrachtete. Sie flüsterte ihm zu: »Wenn es viele Duelle geben wird, verbiete ich dir, dabei mitzumischen. Ich brauche keinen toten Bruder.«
»Aber O Hedaï ...«
»Du hast du gehört, was ich gesagt habe.«
»Ay. Verstanden, O Hedaï.«
Einer der Alten, der eilig den Gemeinschaftsraum verlassen hatte, kam zurück und machte ein bestätigendes Zeichen. »Sie ist tot. Ihr Körper befindet sich in der Position des rituellen Suizids«, sagte er nur.
Die erwachsenen Huangs betraten den Raum schweigend und knieten sich hin.
Da sind sie nun mit ihren Gesichtern aus Stein und ihren kalten, leeren Augen, dachte Suvaïdar . Sie sind das Ergebnis genetischer Manipulationen einer Geisteskranken, aber sie sind auch meine Familie, auch wenn ich nie wirklich das Gefühl hatte, dazuzugehören. Seit meiner Kindheit spüre ich bei den Mitgliedern des Clans Missbilligung, wenn sie sich notgedrungen in meiner Gegenwart aufhalten müssen. Aber jetzt habe ich bewiesen, dass ich eine wahre Shiro bin. Das Töten lässt mich kalt, vorausgesetzt, es läuft nach den Regeln ab. Wenn sie die Verbrechen der Person kennen, die sie zur Saz Adaï gewählt haben, und wenn sie wissen, auf welche Art und Weise ich die Ehre der Huangs wiederhergestellt habe, können sie mich nur anerkennen.
Es sei denn ...
Es sei denn, dass die Machenschaften Odavaïdars den Alten des Clans bereits bekannt waren und sie diese schweigend unterstützt hatten. In dem einen wie in dem anderen Fall wird man mich zum Duell herausfordern. Und wenn ich überleben sollte, stünde der Nächste schon an der weißen Linie des Kampffeldes bereit, um sich mit dem Säbel in der Hand und der Maske vor dem Gesicht mit mir zu duellieren.
Es ist wichtig, dass ich bei der Schilderung der Ereignisse die richtigen Worte finde, um die Entscheidung zu beeinflussen. Ich könnte mich zum Beispiel direkt an Doran wenden. Ich bin sicher, sie würde meine Partei ergreifen, und die Stimme der Meisterin im Fechten wiegt schwer. Wenn ich es schaffe, dass sie als Erste das Wort ergreift, könnte das die Unentschlossenen beeinflussen ...
Suvaïdar zählte im Kopf diejenigen, die ihr wohlgesinnt waren, als sie eine plötzliche Eingebung hatte.
Ich werde nichts von alledem tun, beschloss sie. Ich werde weder diskutieren noch argumentieren, ich werde mich nicht im Geringsten darum bemühen, das, was ich getan habe, in ein günstiges Licht zu rücken. Das wäre unter meiner Würde. Eine Shiro versucht nicht, den Rat zu beeinflussen. Sie akzeptiert die Beschlüsse, ohne zu fragen, ob sie gerecht sind.
Es geht nicht darum zu wissen, ob ich diesen Tag, der sehr bedeutend ist, überlebe. Es kann sein, dass ich in einer Stundeeine Minenarbeiterin mit rasiertem Schädel bin, und dass meine Clan-Tätowierung mit einer Messerklinge
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