Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
flüsterte:
»Da ist irgendwas!«
Die anderen drehten sich sofort um und sahen auf den ersten Blick, was das junge Mädchen in den Bann gezogen hatte: Das dichte Unterholz bestand aus Kormarou-Pflanzen, die für den Menschen giftig waren und für das Vieh als Futter eingeführt wurde. Die großen, dunkelblauen Blätter waren völlig bewegungslos in der stickigen Luft – bis auf eines. Diese Blatt zitterte, obwohl nicht der leiseste Windhauch zu spüren war.
»Da!«, rief Rin, der in der Mitte ging. Er zeigte auf eine Pflanze, die Ähnlichkeit mit einem Baum hatte, was ihre Größe betraf. Die zentrale Ader der großen Blätter, die aus der Erde traten, besaß eine holzartige Beschaffenheit, sodass man ein paar Meter daran hinaufklettern konnte.
Die Gefährten zogen sich an den Blättern hoch, wobei sie sich bemühten, so wenig Lärm wie möglich zu machen, obwohl sie sicher waren, dass das hinter ihnen lauernde Tier sie längst entdeckt hatte. Als sie sich ungefähr zwölf Meter über dem Boden befanden, stellten sie das Klettern ein und drückten sich eng an die Pflanze. Sollte das Tier, das sie verfolgte, sich hinter einer Kormarou-Pflanze versteckt halten, konnte es nicht allzu groß sein und sie hier oben nicht erreichen. Blieb nur zu hoffen, dass es nicht um eine Tica handelte, denn diese Bestien konnten klettern.
Die Blätter der Kormarou-Pflanze bewegten sich wieder. Die Jugendlichen konnten ein mit Dreck verschmutztes Maul erkennen, das vorsichtig aus seinem Versteck kam, ein paar Zentimeter über dem Boden. Das Tier, dessen große Pranken im noch immer feuchten Humus versanken, obwohl das Ende der Trockenzeit erreicht war, bewegte sich nur langsam. Dann vernahmen sie ein Sauggeräusch. Lara seufzte erleichtert und raunte den anderen zu:
»Es ist ein Mox, ein Pflanzenfresser, der ...«
Sie verstummte, als Mauro ihr plötzlich die Hand auf den Mund presste.
Tatsächlich legte das Tier ein merkwürdiges Verhalten an den Tag: Sein großer Kopf hing fast am Boden, und es bewegte sich, als wäre es betrunken. Seine Augen spähten offensichtlich verschreckt in alle Richtungen, aber es lief nicht fort. Maura nahm seine Hand von Laras Mund, während er ihr einen mahnenden Blick zuwarf. Sie gab ihm durch Zeichen zu verstehen, dass sie ihn verstanden hätte und ärgerte sich über sich selbst, weil sie so dumm gewesen war.
Wieder bewegten sich die Blätter der Kormarou-Pflanze, und hinter ihnen kamen Seite an Seite zwei prachtvolle Tiere hervor. Ihre Haut war mit glänzenden, knochigen Schuppen bedeckt. Die Schuppe auf dem Rücken waren leuchtend rot, während die auf dem kleinen, flachen Kopf, der eine Art Krone trug, hell waren. Die Rückenschuppen gingen in ein Büschel Federn über, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen. Obwohl die Tiere klein waren – größere Räuber hätten sie ohne Schwierigkeit zu Tode trampeln können –, zeigten sie keine Furcht: Nékos fürchten sich vor nichts und niemandem. Es war das einzige Tier auf Ta-Shima, das so weit entwickelt war, dass es in Gruppen jagte. Und sah man zwei Nékos, gab es mit Sicherheit ein Dutzend weiterer Tiere, die sich im Unterholz aufhielten.
Die Nékos fürchteten sich nicht vor Raubtieren, denn ihr Blut enthielt eine neurotoxische Substanz, die einen Angreifer auf der Stelle lähmte. Die Klauen und die knochigen Schuppen, die beim Kauen eine Rolle spielten, enthielten ein Netz von Gefäßen. Es ermöglichte ihnen, das Gift durch einen Biss oder einen Kratzer zu injizieren. Und war es erst im Körper eines Feindes, wirkte es blitzschnell.
Der große Mox musste unter der Wirkung dieses Gifts stehen, weil er immer kraftloser wurde und sich bald kaum noch bewegte. Einer der beiden Nékos sprang mit einem anmutigen Satz auf ihn, umklammerte mit seinen tödlichen Klauen den Hals des Opfers und riss ein Stück der dicken Haut ab, die er dann in aller Ruhe kaute. Das Gift war unweit des Hauptnervensystems eingedrungen, und nach ein paar letzten, unkontrollierten Schritten sank der Mox zu Boden.
Aus dem Unterholz watschelte eine Gruppe von Nékos, mehrere erwachsene Exemplare und ein paar Jungtiere. Beim Anblick der kleinen Herde, die ausreichend Gift besaß, um die Hälfte ihres Clans zu töten, dachte Lara absurderweise daran, dass diese Szene Wasser auf die Mühlen der Gelehrten wäre, denn sie behaupteten, bestimmte Tiere des Dschungels besäßen elterliche Verhaltensanlagen.
Dann aber konnte Lara sich auf nichts anderes mehr konzentrieren
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