Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
als auf das grässliche Schauspiel, das sich nur wenige Meter von ihr und den anderen entfernt abspielte: Die Fleischfresser hatten mit ihrer Mahlzeit begonnen. Sie rissen das Fleisch ihrer Beute in Fetzen, die zwar betäubt war, aber noch lebte. Dem Opfer blieb nichts anderes übrig, als seine von Angst und Schmerz erfüllten Augen abzuwenden. Nach ein paar Minuten erlosch jedes Lebenszeichen des Mox. Die Lähmung musste die Atemmuskulatur erreicht haben.
Die Nékos fraßen in aller Ruhe weiter, bis ihre Bauchhaut dermaßen gespannt war, dass man die einzelnen Schuppen unterscheiden konnte. Schließlich rollten sie sich in einer Bewegung zusammen, die Lara an die von Hirtenhunden erinnerte. Es sah aus, als wollten sie nach dem Essen ein Nickerchen halten, um nach dem Erwachen weiter zu essen.
Die fünf Shiro berieten sich mit leiser Stimme.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Rin. »Die Biester haben sich für mehrere Jahre vollgefressen, und wir können hier nicht stundenlang das Gleichgewicht halten. Womöglich schlafen wir ein und fallen herunter, und die Nékos greifen uns an.«
»Wir können jetzt nur eins machen, und zwar herunterklettern, einer nach dem anderen. Ohne Lärm und schön langsam«, sagte Mauro. »Sie sind jetzt satt und werden uns deshalb nicht hinterherlaufen. Und wenn sie sich nicht bedroht fühlen, haben sie keinen Grund, uns anzugreifen. Außerdem sind sie durch das Fressen schwerfällig geworden, und sollten sie uns folgen, wären sie viel langsamer, als sie es normalerweise sind.«
»Das hat nicht viel zu bedeuten. Sie sind immer noch so schnell wie ein galoppierendes Pferd.«
»Ja, schon, aber es sind Kaltblüter, also Faulpelze, die keine unnütze Bewegung machen. Geben wir ihnen keinen guten Grund, sich zu erheben! Lara, du gehst als Erste. Steig langsam und vorsichtig hinunter und halte dich bereit, damit du schnell wieder herauf kannst, wenn die Biester bedrohlich wirken.«
Warum seine Wahl auf Lara gefallen war, sagte er nicht. Aber Lara wusste nur zu gut, dass sie diejenige war, auf die die Gruppe am ehesten verzichten konnte.
»Rin«, fuhr Mauro dort, »du gehst hinter ihr und hilfst ihr beim Abstieg, falls es irgendein Problem geben sollte. Wenn nichts passiert, folgst du ihr. Wir drei gehen zuletzt und decken euch, denn wir können am besten mit dem Messer umgehen. Wir müssen es versuchen. Darauf zu warten, bis die Nékos alles verdaut haben, wäre keine gute Idee.«
Lara hoffte inständig, Mauros Theorien über das Verhalten der Raubtiere würden sich als zutreffend erweisen. Sie war vor Angst und Schrecken wie gelähmt und bewegte sich nur vorsichtig in die Tiefe. Dabei versuchte sie, jedes Geräusch zu vermeiden, wenn sie sich an den großen Blättern abstützte. Als sie die Hälfte des Abstiegs geschafft hatte, verharrte sie: Eines der Tiere hatte sich bewegt. Lässig hatte es ein Facettenauge geöffnet und sich umgeschaut. Lara hatte das Gefühl, der Néko würde sie fixieren, aber er schloss das Auge wieder, als er keine Gefahr witterte. Seine Schnauze sank wieder herab zu dem Stück Aas, das ihm als Kopfkissen diente.
Lara wartete eine Minute, die ihr so lang wie ein ganzes Jahrhundert vorkam. Dann bewegte sie ganz vorsichtig einen Fuß, suchte tastend nach einem Halt. Dabei behielt sie die ganze Zeit die Raubtiere im Auge, die nur wenige Meter entfernt vor ihr lagen. Nichts bewegte sich in der schweren Luft. Die Anwesenheit der Nékos hatte auch einen gewissen Vorteil: Alle anderen Tiere fürchteten sich vor ihnen und blieben auf Distanz.
Endlich war Lara unten – um gleich wieder zu erstarren, als ihr klar wurde, dass es keinen Rückzug mehr gab, wenn sie sich ein paar Schritte vom Baum entfernt hatte. Vor ihr war dichtes Unterholz, so weit sie blicken konnte – ein kompaktes Netz ausLianen und dünnen Zweigen. Zu dünn, als dass sie ihr Gewicht hätten tragen können.
Sie warf einen letzten Blick zurück auf die eleganten, bunten Ungeheuer; dann ging sie, Schritt für Schritt, weiter am Ufer entlang. Doch die Angst, dass eines der Tiere ihr folgen könnte, zwang sie, alle zwei Sekunden über die Schulter zu schauen, denn die trägen Tiere konnten sich bekanntlich in eine Horde superschneller Jäger verwandeln. Doch die Nékos bewegten sich nicht.
Jetzt kam auch Rin aus seinem Versteck. Sofort entfernte er sich vom Baum, der ihm als Zufluchtsort gedient hatte. Endlich musste Lara nicht mehr ständig nach hinten schauen und beschleunigte ihren Schritt.
Als
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