Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Dämmerlicht.
Der Steuermann hisste ein Segel, und das Boot fuhr einen schiffbaren Weg entlang, der sich im Delta des großen Flusses befinden musste, das die Ta-Shimoda schlicht Corosaï-no-goïnannten – »außerhalb des Corosaï«. Beim schwachen Lichtschein der zwei Monde bemerkte Lara, dass sie die anderen Boote, die eine andere Richtung eingeschlagen haben mussten, nicht mehr sehen konnte. Mit ihnen an Bord waren vier Gruppen, die aus jeweils fünf Personen bestanden, und eine, zu denen nur drei gehörten. Das Trio guckte neidisch auf die anderen. Der Shiro, der sie begleitete, hatte auf der ganzen Reise kein einziges Wort gesprochen; nur hin und wieder hatte er spröde einem der Jugendlichen, die das Boot mit langen Stangen durch den Strom manövrierten, Anweisungen erteilt. An mehreren Stellen legten sie an; jedes Mal gab der Mann den Jugendlichen ein Zeichen, worauf die gesamte Gruppe von Bord ging. Laras Gruppe war als dritte an der Reihe; als ihr Boot lautlos an den anderen vorüberglitt, um an Land zu gehen, flüsterte eine Stimme Lara zu:
»Wir treffen uns beim nächsten Fest der drei Monde.«
Wer da zu ihr gesprochen hatte, konnte sie nicht sehen, aber die Worte gaben ihr Kraft.
Dann beobachteten sie, wie sich das Boot entfernte, lautlos wie ein Phantom. Binnen weniger Sekunden wurde es vom Nebel, der vom Fluss aufstieg, verschlungen. Sie waren ganz allein. Nun hieß es erst einmal, sich durchzubeißen, um etwas zu Essen und Trinkwasser zu finden. Vor allem aber mussten sie verhindern, die Beute eines der wilden Tiere zu werden, die den Wald durchstreiften.
Sie schauten sich um und nahmen den Ort in Augenschein, an dem sie an Land gegangen waren. Sie standen auf Sandboden, der offenbar überflutet gewesen war, als der Fluss Hochwasser geführt hatte: Man sah keine frischen Triebe. Einige Schritte weiter erhob sich der Dschungel wie eine Mauer vor ihnen – ein undurchdringliches Pflanzen-Wirrwarr, das untereinander Kämpfe ausfocht, um an das spärliche Licht zu gelangen. Alles trotzte jeder botanischen Klassifikation; die Ta-Shimoda bezeichneten diese Pflanzen pauschal als »Bäume« und »Sträucher« – so wie sie formlose Saprophyten, die in Massen auf dem Boden wuchsen und auf die man auf gar keinen Fall treten durfte, »Pilze« nannten. Sie waren deshalb so gefährlich, weil sie sich vor Angriffen schützten, indem sie eine Wolke halluzinogener Sporen freisetzten.
Am Wasserlauf war die Vegetation besonders dicht und üppig. Das war ein Vorteil, weil der dichte Bewuchs es größeren Tieren unmöglich macht, sich hier einen Weg zu bahnen, wie Lara gelesen und ihren Kameraden erzählt hatte. Aber die Vegetation barg auch ein Risiko: Wenn sie flüchten mussten, gab es keinen einzigen Pfad. Es war unmöglich, das Unterholz ohne eine Axt zu durchdringen, und das Tauchen im Fluss wäre einem Himmelfahrtskommando gleichgekommen.
Auf den ersten Blick schien es hier ruhig zu sein, aber wenn man die Ohren spitzte, konnte man Rascheln und gedämpfte Geräusche hören. War das eines der großen Blätter einer Riesenpflanze, das sich öffnete und seinen Vorrat an Regenwasser fallen ließ? Oder war es die Tatze eines Raubtieres, das bereits auf der Lauer lag? Die Luft war schwer und angefüllt mit dem Geruch verwesender Pflanzen; einmal jedoch erreichte Lara und die anderen der Hauch eines angenehmen, bittersüßen Parfums: Am Ufer wuchs eine riesige Daïbanpflanze mit blaugrünen Zweigen, deren Wurzeln zur Hälfte im Wasser stand. Die dicken, ölhaltigen Samen, die am Ende der Zweige hingen und die von den Ta-Shimoda »Blumen« genannt wurden, waren gerade erst erntereif geworden.
»Welch nette Aufmerksamkeit«, sagte Rin und bewegte sich auf die Pflanze zu. »Da will ich mir doch gleich mal ein paar pflücken.«
Rico folgte ihm, das Messer in der Hand. »Wenn du einen Schritt weitergehst«, zischte er drohend, »besteht unsere Gruppe bald nur noch aus vier Leuten!«
»Ich hab bloß einen Spaß gemacht.«
»Einen Spaß? Ich finde das gar nicht witzig. Lass uns lieber zusehen, dass wir hier wegkommen.«
Bei ihren vorbereitenden Gesprächen hatten Lara und die anderen versucht, sich alle Eventualitäten vorzustellen. Auch über die möglichen unterschiedlichen Routen zurück nach Gaia – je nachdem, wo man sie an Land setzen würde – hatten sie sich ausgiebig Gedanken gemacht. Schließlich waren sie zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sie vom linken Ufer aus die Wahl hatten,entweder dem
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