Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
zwischen ihr und den Nékos ein dichtes Gewirr aus Kormarou-Pflanzen lag, begann sie mit leichten Sprüngen zu laufen, so leise sie konnte. Doch in der Eile vergaß sie, darauf zu achten, wohin sie ihre Füße setzte. Plötzlich fühlte sie unter ihrem Stiefel eine weiche Konsistenz, die sich mit einem Geräusch auflöste, das an ein Gluckern erinnerte.
»Ein Pilz!«, rief sie.
Vor Schreck hatte sie die Abmachung vergessen, dass alle sich still verhalten sollten. Doch sie musste die anderen davor warnen, die Sporen einzuatmen. Denn gelangten sie in die Atemwege, würde keiner von ihnen klaren Kopf behalten. Dan könnte niemand die anderen davon abhalten, in den Fluss zu springen oder ein Néko zwischen den Ohren zu kraulen – vorausgesetzt, die Biester besaßen Ohren; sicher war Lara sich da nicht.
Sie bedeckte Nase und Mund mit der Hand und lief weiter in der Hoffnung, in der Nähe des Pilzes nicht allzu viel Luft geholt zu haben. Diesmal achtete sie genauer auf das Gelände, das vor ihr lag.
Aus dem Augenwinkel sah sie plötzlich einen bunten Schal, der sich in eine Daïbanblume verwandelte. Das ist nur eine Halluzination , sagte sie sich und zwang sich, durch das Bild hindurch zu schauen, das mit einem Mal zu zittern begann. Dann wurde es durchlässig und löste sich in Nichts auf.
Vorsichtig bewegte Lara sich weiter vorwärts, stets den Gedanken im Hinterkopf, dass ihre Sinne ihr einen Streich spielen konnten und dass die Uferböschung in Wirklichkeit der Flusslauf war. Sie wusste, dass eine Halluzination Augen und Ohren täuschen konnte; sogar der Tastsinn konnte in Mitleidenschaft gezogen sein. Doch sie war sich auch bewusst, dass nicht alle Sinne auf einmal betroffen sein würden. Wenn ich Steine sehe, links davon das Plätschern des Wassers höre und das Gefühl habe, meine Füße treten auf etwas Festes, bin ich mit Sicherheit am Flussufer, ging es ihr durch den Kopf, während sie sich so langsam voranbewegte, dass Rin sie bald eingeholt hatte.
»Gib mir deine Hand«, bat sie ihn.
»Hast du viel von dem Zeug eingeatmet?«
»Nein, nur ein bisschen, aber es könnte schon reichen, um Halluzinationen hervorzurufen.«
Rin umfasste fest ihr Handgelenk, und sie gingen Seite an Seite weiter. Sekunden später schlossen sich ihnen Saïda und Mauro an. Von Rico aber fehlte jede Spur. Die Jugendlichen warfen einander besorgte Blicke zu. Schließlich blieben sie stehen, um auf Rico zu warten. Als sich nichts tat, murmelte Saïda: »Wartet auf mich, aber nicht zu lange.«
Er ging den Weg zurück.
Schon fünf Minuten später kam er mit Rico wieder. Sie war erschreckend blass und musste sich von Saïda stützen lassen.
»Lass mich los«, presste sie hervor. »Ihr könnt nichts mehr für mich tun. Es hat mich gekratzt, und die Lähmung hat bereits eingesetzt. Wenn du mir wirklich helfen willst, Saïda, dann schneide mir den Hals durch, damit sie mich wenigstens nicht bei lebendigem Leibe fressen.«
»Du bist gekratzt worden?«, fragte Lara.
»Ja«, antwortete Rico erschöpft und mutlos. »Und das Gift ist schon im Blut, deshalb ist sowieso alles egal.«
»Im Gegenteil. Es ist wichtig. Zeig mir die Stelle.«
Der Kratzer befand sich am Bein, unter dem Knie, dicht über dem Stiefel. Lara runzelte die Brauen, als sie feststellte, dass sich dort ein böser roter Fleck gebildet hatte, der langsam größer wurde.
»Ist es das Bein oder die Hüfte?«
»Das Bein und der Fuß. Ich kann nicht mehr gehen.«
»Das bedeutet, das Gift ist in eine Arterie gedrungen, nicht in eine Vene. Das ist gut. Das Gift kann nicht bis zum Herzen und in die Lunge gelangen. Der Kratzer ist oberflächlich, und dein Körper wird sich wieder erholen. Das Gift muss aber erst verstoffwechselt werden, und das braucht eine gewisse Zeit. So lange darfst du dich nicht bewegen, damit das Blut langsamer zirkuliert.«
»Was ändert das schon? Wenn ich allein hierbleibe, bis das Gift seine Wirkung verliert, haben die wilden Tiere alle Zeit der Welt, mich zu verschlingen. Machen wir lieber sofort Schluss.«
»Wer hat denn gesagt, dass du allein hierbleiben sollst?«, fragte Mauro gelassen.
»Ihr wollt doch nicht auch bleiben? Gerade mal zweihundert Meter von einer Horde Ungeheuer entfernt? Seid ihr verrückt?«
»Der ganze Dschungel ist voller Ungeheuer«, sagte Mauro. »Wenn wir nicht hierbleiben können, werden wir dich eben tragen.«
Die anderen pflichteten ihm bei.
»Dann wollen wir mal«, sagte der muskulöse Saïda, hob Rico als Erster
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