Das Gesicht der Anderen
zuckte die Schultern. “Wie gesagt, es ist mir nur aufgefallen.”
“Da ist dir was Falsches aufgefallen”, log Dante. Obwohl er sich selbst dauernd einzureden versuchte, Tessa Westbrook und ihre Tochter hätten nichts mit Amy zu tun, sagte ihm auch hier sein Bauchgefühl etwas anderes. Es musste eine Verbindung zwischen den beiden Frauen geben – welche, wusste er noch nicht. Aber er würde es herausfinden.
“Mein liebes Mädchen! Warum hast du uns nicht gesagt, was passiert ist?” Umgeben von einer Wolke aus Lavendel rauschte Myrle Poole in die Bibliothek, ihr kinnlanges, platinblondes Haar peitschte leicht ihre geschminkten Wangen. Ihre mit Ringen geschmückte linke Hand strich über den lavendelfarbenen Seidenschal, der perfekt zu dem lila Wollkostüm passte.
Hal Carpenter stand draußen in der Halle. Mit einem Blick entschuldigte er sich bei Tessa für die abrupte Störung, die er nicht hatte verhindern können. “Mrs. Poole ist hier”, sagte er nun verspätet. “Und Miss Celia wartet im Foyer auf Mr. Sentell, der gerade den Wagen parkt.”
Tessa stöhnte innerlich. Die gesamte Verwandtschaft marschierte also auf. Sie hatte gewusst, es war nur eine Frage der Zeit – obwohl ihr Vater und sie beschlossen hatten, niemandem aus der Familie von Leslie Annes plötzlichem Verschwinden zu berichten. Myrle, die Schwester ihrer Mutter, und ihre Tochter Celia hatten sich zusammengetan mit Charlie, dem Patensohn ihres Vaters. Sie bildeten die erste Invasionswelle. Und wenn diese drei von dem Vorfall erfahren hatten, würden die anderen auch bald davon hören – wenn sie es nicht schon wussten.
Myrle packte Tessa an der Schulter, küsste sie auf die Wange und umarmte sie dann fest. “Sicher wollte G. W. nur nicht, dass wir uns Sorgen machen, aber er hätte mich trotzdem sofort informieren müssen. Immerhin ist unsere liebe Leslie Anne die einzige Enkelin meiner Schwester.”
Tante Myrle hatte einen leichten Hang zur Melodramatik. Eine der Charaktereigenschaften der Familie Leslie, die Tessa glücklicherweise nicht geerbt hatte.
Tessa erwiderte die Umarmung ihrer Tante, wenn auch weniger leidenschaftlich. “Daddy und ich dachten, Leslie Anne würde von selbst wieder nach Hause kommen. Kein Grund also, noch mehr Leute zu beunruhigen.”
“Habt ihr immer noch nichts von ihr gehört? Oh, wie furchtbar. Und man weiß nicht, was dem armen Kind zugestoßen ist?”
“Ich bin sicher, es geht Leslie Anne gut”, schaltete sich Lucie Evans ein.
Myrle richtete ihren Blick auf die Agentin, und ihre blauen Augen verengten sich zu einem schmalen Schlitz, während sie die Fremde inspizierte. “Und wer sind Sie?”
“Tante Myrle, das ist Lucie Evans von der Detektei Dundee. Daddy hat das Unternehmen engagiert, damit es die Polizei bei der Suche nach Leslie Anne unterstützt. Lucie, wenn ich Ihnen meine Tante vorstellen darf – Mrs. Myrle Leslie Poole.”
“Was ist die Detektei Dundee?”, fragte Myrle.
“Und wenn sie nach Leslie Anne suchen, was macht diese Frau dann
hier
?”, fragte Celia Poole, als sie die Bibliothek betrat.
Tessa zwang sich, eine freundliche Miene aufzusetzen und drehte sich zu ihrer Cousine Celia um, die von einem schlanken, elegant gekleideten Mann begleitet wurde. Charles Sentell, der Patensohn ihres Vaters, sah sie immer noch so an wie all die Jahre zuvor – voller Liebe. Wäre es ihr nur möglich gewesen, seine Gefühle zu erwidern, wäre jetzt vielleicht alles anders.
“Lucie ist eine von vier Agenten der Detektei Dundee. Die anderen haben die Feldarbeit übernommen, und Lucie unterstützt mich hier.” Tessa sah erst Lucie, dann die anderen Personen im Raum an. “Lucie, das ist meine Cousine Celia Poole.” Nach zwei Scheidungen hatte Celia wieder ihren Mädchennamen angenommen. “Und das”, und damit sah sie Charlie an, “ist Charles Sentell, ein Freund der Familie und der Patensohn meines Vaters.”
“Wo ist denn eigentlich G. W.?”, fragte Charlie abrupt und demonstrierte damit sein Desinteresse an Lucie Evans, die er offensichtlich als eine Art bessere Dienstbotin empfand. Eine von Charlies unangenehmen Eigenschaften war sein überlegenes Gehabe. Er hielt drei Viertel der Menschheit für seine Untergebenen.
Zum x-ten Mal in siebzehn Jahren fragte sich Tessa, warum um Himmels willen ihr Vater gedacht hatte, sie könnte diesen Mann heiraten wollen. Er war zwar durchaus attraktiv, schlank und durchtrainiert, mit hellbraunen Haaren und grauen Augen. Nicht zu groß und
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