Das Gesicht der Anderen
hassen würde. Ihr Vater hatte ihr vorgeschlagen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, und sie hatte sich diese Möglichkeit gründlich durch den Kopf gehen lassen. Aber dann hatte ihre Mutter zufällig von ihrer Schwangerschaft erfahren, als sich zwei Krankenschwestern über Tessas Zustand unterhielten. Anne Westbrook, der man aus Rücksicht auf ihren eigenen Gesundheitszustand nicht gesagt hatte, dass ihre Tochter vergewaltigt worden war, hatte Tessa gebeten, das Kind zu bekommen. Wie hätte sie ihrer todkranken Mutter diesen Wunsch abschlagen können?
Und komischerweise war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie Leslie Anne dann zum ersten Mal im Arm hielt. Etwas in ihr – der Mutterinstinkt? – diktierte plötzlich alles, was sie fühlte und tat – damals wie heute. Eine tiefe Liebe für das Neugeborene und das Bedürfnis, es zu beschützen, hatten sich ihrer bemächtigt. Doch sie selbst war noch nicht vollständig genesen und musste sich weiterhin von den Folgen ihres “Unfalls” erholen. Daher mussten sich ihre Eltern schon gleich nach der Geburt sehr viel um Leslie Anne kümmern. Aber an dem Tag, als sie ihre Tochter zur Welt brachte, hatte Tessa sich geschworen, eines Tages wieder ganz gesund zu werden, völlig egal, wie lange sie dafür brauchen würde.
Von den schlimmen körperlichen Verletzungen hatte sie sich mittlerweile auch vollständig erholt, doch emotional war sie selbst jetzt noch, siebzehn Jahr später, alles andere als stabil.
“Das ist Ihr neues Zimmer”, erklärte der Assistant Manager, als er mit der Keycard die Tür öffnete. “Ich stelle Ihnen noch eben den Koffer rein, dann bin ich sofort weg.”
Obwohl Leslie Anne ein leichtes Unbehagen empfand – ihr Überlebenstrieb? – versuchte sie sich einzureden, dass dieser Mann einfach nur freundlich war und seinen Job erledigte.
Sie streckte die Hand nach ihrem Koffer aus. “Das schaffe ich schon allein. Vielen Dank.”
Der Mann lächelte sie an, und sie kam sich dumm vor, dass sie an seinen Motiven gezweifelt hatte. Mr. Joe Thompson. Jemand, der etwas Böses im Schilde führt, nennt ja wohl nicht seinen Namen.
“Wie Sie wünschen.” Er reichte ihr den Koffer. “Oh, und noch etwas. In Ihrem Zimmer wartet ein Obstkorb auf Sie. Ein kleines Dankeschön für Ihr Verständnis und Ihre Kooperation.”
“Oh. Tja … Vielen Dank.”
“Und wenn wir sonst noch etwas für Sie tun können, melden Sie sich einfach bei mir im Büro des Managers.”
Und damit drehte sich Joe Thompson um und ging. Leslie Anne entfuhr ein Seufzer der Erleichterung.
Ich wusste es doch. Es war albern zu glauben, der Typ hätte irgendwas mit mir vor.
Der Verkehr in Tuscaloosa war schrecklich. Vielleicht lag es an den vielen Tausend Studenten, die hier lebten und dauernd unterwegs waren. Dante trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad, als sie schon wieder vor einer roten Ampel stehen bleiben mussten.
“Jetzt werd schon grün!”, brummte er vor sich hin.
“Bleib ruhig”, sagte Dom zu ihm. “Es sind schon Polizisten im Motel und gehen von Zimmer zu Zimmer. Wenn Leslie Anne Westbrook dort ist, wird man sie finden.”
“Ja, ich weiß. Aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Mein Bauch sagt mir, dass da etwas nicht stimmt. Und mein Bauch hat meistens recht.”
“Deinen eigenen Ratschlag selbst annehmen kannst du aber nicht, oder?”
“Was?”
Die Ampel sprang auf Grün. Dante wäre am liebsten die Straße hinuntergeflogen, aber bei dem starken Verkehr schafften sie nicht mal die erlaubte Höchstgeschwindigkeit.
“Du hast doch vorhin Ms. Westbrook am Telefon gesagt, sie soll daran glauben, dass es ihrer Tochter gut geht.”
“Was hätte ich ihr sonst sagen sollen?” Vor allem, da sie selbst als Teenager vergewaltigt worden war. Tessa machte bestimmt im Augenblick die Hölle durch und war ganz krank vor Sorge bei dem Gedanken, was ihrer Tochter alles zustoßen könnte.
“Darf ich dir mal eine Beobachtung mitteilen?”, fragte Dom.
“Was redest du denn da?”
“Bei Dundee eilt dir ein gewisser Ruf voraus – der eines Mr. 'Ich-tue-die-Dinge-auf-meine-Art'. Es heißt, du bleibst immer objektiv und lässt die Fälle emotional nicht an dich heran. Zwei wichtige Eigenschaften für einen guten Agenten.”
“Und?”
“Wieso werde ich trotzdem das Gefühl nicht los, dass dich dieser Fall persönlich berührt?”
“Wie soll mich der Fall persönlich berühren? Ich kenne die Familie Westbrook überhaupt nicht.”
Dom
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