Das Gesicht der Anderen
unerwartet herein. Es war einfach sicherer, sie in sein eigenes Zimmer mitzunehmen.
Dort wartete eine nette kleine Überraschung auf sie.
4. KAPITEL
T essa schrak hoch, als Lucie Evans' Mobiltelefon klingelte. Seit Dante Moran vor über drei Stunden weggefahren war, hatten sie nichts mehr von ihm gehört. Ihr Vater war so rastlos und aufgewühlt gewesen, dass sie und Lucie ihn schließlich überredet hatten, einen langen Spaziergang mit seinen beiden Irischen Settern Jefferson und Davis zu machen. Glücklicherweise hatte Tessa nicht die nervöse, cholerische Art ihres Vaters geerbt. Ihre Mutter Anne war eine gelassene Frau gewesen, deren Passivität sie nach Ausbruch ihrer Krankheit leider zu einer besitzergreifenden, anhänglichen und unselbstständigen Person hatte werden lassen. Immer wieder hatte Tessa erlebt, wie ihre Mutter ihren Vater mit ihrem Seufzen oder mit Tränen manipulierte. Vermutlich hatte sie Charaktereigenschaften beider Elternteile geerbt. Obwohl auch sie von Natur aus eher ein gelassener Typ war, besaß sie einen Drang nach Unabhängigkeit, der sie des Öfteren mit ihrem Vater aneinandergeraten ließ. Vor allem stritten sie sich häufig über die beste Erziehungsmethode für Leslie Anne.
“Ich verstehe”, sagte Lucie ins Telefon. “Das sind doch gute Nachrichten.”
“Was ist los?”, fragte Tessa.
Lucie ignorierte ihre Frage und sagte: “Ja, sie ist hier. Nein, er ist mit den Hunden draußen.” Dann wandte sie sich an Tessa. “Es ist Dante, für Sie. Es gibt Neues über Leslie Anne. Und er hat noch ein paar Fragen.”
Tessa riss ihr förmlich den Hörer aus der Hand. “Haben Sie meine Tochter gefunden?”
Bitte, lieber Gott, bitte!
“Nein, tut mir leid. Noch nicht. Aber es wird nicht mehr lange dauern.”
Einen Moment lang wurde Tessa von Enttäuschung übermannt, aber als Dante noch einmal ihren Namen sagte, war sie wieder voll da. “Ja, Mr. Moran. Was kann ich für Sie tun?”
“Wir haben herausgefunden, dass Leslie Anne mit ihrer Freundin Hannah Wright die Autos getauscht hat. Das heißt, die Behörden haben bisher nach dem falschen Fahrzeug gesucht.”
“Hannah hat mir geschworen, sie wüsste nichts. Aber wahrscheinlich hat Leslie Anne sie gebeten, niemandem etwas zu verraten.” Tessa versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. “Und jetzt sucht die Polizei nach dem richtigen Wagen?”
“Eine Fahndung nach dem roten BMW Z4 der Wrights ging sofort raus, und es gibt bereits drei Rückmeldungen. Ein Wagen vom selben Typ wurde leer und mit abgeschraubtem Nummernschild in Louisiana gefunden. Mein Kollege Vic ist bereits vor Ort.”
Tessa schnappte nach Luft.
“Er hat mich soeben darüber informiert, dass es sich nicht um den Wagen von Hannah Wright handelt.”
“Gott sei Dank!” Tessa stieß einen Laut der Erleichterung aus.
“Hannahs Wagen wurde mittlerweile anhand des Kennzeichens identifiziert. Er steht auf dem Parkplatz des Motel Bama in Tuscaloosa, Alabama. Die örtliche Polizei ist in diesem Moment unterwegs dorthin.”
Tränen stiegen Tessa in die Augen. “Und Leslie Anne?”
“Das wissen wir noch nicht. Aber Dom und ich sind gerade per Hubschrauber nach Tuscaloosa geflogen und befinden uns schon auf dem Weg zum Motel. Sobald wir mehr wissen, melde ich mich wieder.”
“Danke.”
“Tessa?”
“Ja?”
“Denken Sie daran: Es geht Ihrer Tochter gut. Vertrauen Sie darauf, dass wir sie bald nach Hause bringen werden. Versprechen Sie mir das?”
“Ja. Das … das kann ich machen.”
“Gut.”
Tessa hielt Lucie das Telefon hin. Erstaunlicherweise zitterte ihre Hand gar nicht. Nach außen hin war sie völlig ruhig. Aber innerlich war sie ein reines Nervenbündel.
“Hat er Ihnen dasselbe gesagt, was er mir gerade gesagt hat?”, fragte Tessa.
Lucie nickte, klappte das Telefon zu und klemmte es wieder an ihren Gürtel. “Wir können jetzt nur warten. Ich weiß, das ist nicht leicht. Aber Dante wird sich bei uns melden, sobald …”
“Es geht Leslie Anne gut, und er wird sie bald nach Hause bringen.”
Lucie lächelte. “So ist es recht. Immer positiv denken.”
Ja, das würde sie. Sie musste einfach glauben, dass ihr Kind nicht in Gefahr war, denn alles andere wäre unerträglich. Falls Leslie Anne etwas zustieße, wüsste sie nicht, was sie tun würde. Ihre Tochter war ihr Leben.
Über die gesamte Zeit der Schwangerschaft hatte sie sich immer wieder gefragt, ob sie das Kind ihres Vergewaltigers wirklich lieben könne oder ob sie es nicht doch
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