Das Gesicht der Anderen
kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein.
Es konnte nicht sein, dass das gute Kind die Wahrheit über ihren Vater herausgefunden hatte? Weder G. W. noch Tessa hätten es ihr jemals gesagt. Sie selbst hatte es ihr ganz bestimmt nicht gesagt. Und mehr Menschen wussten nicht davon. Sharon hatte nie einer Menschenseele von Tessas Vergewaltigung erzählt – jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Selbst unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen würde sie niemals dieses Familiengeheimnis verraten!
Als das Eisentor von Leslie Plantation in Sichtweite war, verkrampfte sich Sharon. Sie kam einfach nicht gern hierher. Abgesehen davon, dass sie dieses alte Haus hasste und alles, was es symbolisierte – es war trotzdem ein Zuhause für sie. Hier lebte ihre Familie – G. W., Tessa und Leslie Anne. Sosehr sie das Reisen liebte und ihre Treffen mit Freunden, je älter sie wurde, desto wichtiger wurde ihr die Familie, hatte Sharon festgestellt.
Und wenn Leslie Anne jetzt in Schwierigkeiten war, brauchte sie ihre Tante Sharon. Von G. W. durfte sie kein Mitleid erwarten. Er hielt das Mädchen für perfekt und erwartete, sie würde immer perfekt sein. Vielleicht hatte ihre Nichte ja heimlich einen Freund und war schwanger geworden. In diesem Fall würde Tante Sharon eine Möglichkeit finden. Oder vielleicht war die Sache nicht halb so ernst, sondern es ging nur um eine verkorkste Mathe-Klausur. Schließlich erwarteten G. W. und Tessa, dass Leslie Anne eine Musterschülerin war.
Doch aus welchem Grund Leslie Anne auch davongelaufen sein mochte, sicher nicht, weil sie herausgefunden hatte, dass ihre Mutter von einem Psychopathen vergewaltigt worden war. Nein, das konnte nicht sein. Und weder G. W. noch Tessa würden es aushalten, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Niemand konnte herausgefunden haben, was Tessa damals erlebt hatte – nicht, nachdem G. W. alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um sämtliche Beweise verschwinden zu lassen.
Tessa wusste, dass sie Dante nur ein bisschen zu ermuntern brauchte, damit er sie küssen würde. Und obwohl sie sich danach sehnte, hatte sie Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Es kam ihr völlig unwirklich vor, einen Mann zu begehren – überhaupt irgendeinen Mann. Und dass sie sich nach diesem Mann sehnte, den sie kaum kannte, verblüffte sie total.
“Schließ mich nicht aus, Tessa”, bat er sie.
“Das tue ich nicht.”
Er legte sanft seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. “Doch, das tust du.”
“Nicht absichtlich.”
Sein Finger zog die Kontur ihrer Lippen nach, dann fuhr er über ihr Kinn und über ihren Hals. Tessa verlor sich in dem sinnlichen Vergnügen seiner Berührung und schloss die Augen. Sie hielt den Atem an, als Dante seine Hand über ihren Hals gleiten ließ und schließlich ihr Kinn umfing.
Sie öffnete die Augen. Ihr Blick traf seinen, und keiner von beiden konnte sich abwenden. “Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht”, gestand sie ihm. Sie wollte ehrlich zu ihm sein.
“Man nennt das sexuelle Anziehung.” Dantes Lippen verzogen sich zu einem zögerlichen Lächeln. “Das ist das Gefühl, bei dem sich ein Mann und eine Frau gegenseitig die Kleider vom Leib reißen und übereinander herfallen möchten wie die Tiere.”
“Ich weiß, was das ist.” Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern. “Aber ich habe das noch nie erlebt. Vielleicht vor … vor der Vergewaltigung. Aber seitdem nicht mehr.”
“Soll das heißen, du warst nicht mehr mit einem Mann zusammen, seit …”
“Nein, das heißt es nicht. Im Zuge meiner Genesung wollte ich Sex haben und hatte auch welchen, aber … Sagen wir mal so, ich konnte keine rechte Begeisterung dafür entwickeln. Ich habe nie jemanden wirklich begehrt. Nicht bis jetzt. Und jetzt ausgerechnet du.”
“Warum nicht ich?”
Er streckte die Hand nach ihr aus – sie wich ihm aus.
“Du willst nicht, dass ich dich anfasse?”, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. “Das ist es nicht. Das Problem ist, ich will es viel zu sehr. Aber mein Leben ist so kompliziert im Moment. Ich kann mich nicht auf eine Affäre einlassen. Dabei wäre es die erste Beziehung, die ich wirklich will.”
“Was war denn vor deiner Vergewaltigung? Entweder war da was oder da war nichts. Normalerweise vergisst eine Frau ihren ersten Mann doch nicht.”
“Man hat mir gesagt, Charlie Sentell wäre mein erster Mann gewesen. Also, das hat
er
mir gesagt”, korrigierte Tessa sich. “Aber Tante Sharon hat mir geschworen, dass
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