Das Gesicht der Anderen
fließt und ich vielleicht sein krankes Bedürfnis zu morden geerbt habe!” Sie baute sich vor dem Arzt auf und sah ihn provokativ an. “Vielleicht fange ich ja mit Ihnen an. Macht Ihnen das keine Sorgen?”
Dr. Barretts rötliches Gesicht wurde bleich. Obwohl ihr alles andere als fröhlich zumute war, musste Leslie Anne lachen. Lustig – Dr. Barrett war von ihrer Drohung sichtlich beeindruckt. Aber er verlor nicht die Fassung.
“Ich kann dir nicht helfen, wenn du keine Hilfe möchtest”, sagte er ganz ruhig. “Deine Mutter hat verzweifelt nach Hilfe gesucht. Aber du bist offensichtlich noch nicht so weit.”
“Ich bin so weit, dass Sie mich in Ruhe lassen können!” Leslie Anne reckte trotzig das Kinn vor und blieb stehen.
“Wenn Sie das wirklich möchten …”
“Ja, das möchte ich.”
“Gut. Soll ich Sie noch zurück zum Haus bringen, damit wir Ihrer Mutter gemeinsam sagen können, was Sie von einer Therapie halten? Dass Sie noch nicht bereit für eine Sitzung bei mir sind?”
“Sagen Sie es ihr doch selbst. Und wenn Sie schon dabei sind – sagen Sie ihr auch gleich, dass mich alle mal in Ruhe lassen können. Und damit meine ich wirklich alle!” Und damit drehte sich Leslie Anne um und rannte davon.
“Leslie Anne!”
Dr. Barrett rief noch ein paarmal nach ihr, doch Leslie Anne ließ sich nicht beirren. Sie rannte immer weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie rannte den Weg hinunter, weg von dem Arzt und ihrem Zuhause und ihrer Familie, weg von einer Wahrheit, die sie nicht ertragen konnte. Aber wo sollte sie hin? Was war ihr Ziel? Sie wusste es nicht, aber es war ihr auch egal.
Als ihr klar wurde, welchen Weg sie genommen hatte, war sie schon beim Fluss angekommen. Außer Atem und verschwitzt erreichte sie die Uferböschung. Unter ihr schlängelte sich der dunkle, träge fließende Mississippi dahin. Sie blickte hinunter, über die Sträucher, die sich in das zerklüftete Ufergestein klammerten, und fragte sich, ob sie nicht einfach springen sollte. Wenn sie sich jetzt den Abhang hinunterstürzte, in den Fluss, wären alle ihre Probleme gelöst. Sie müsste sich nicht mehr damit auseinandersetzen, dass Eddie Jay Nealy ihr Vater war. Nie wieder.
“Hast du etwa vor zu springen?”, fragte da eine ihr nur zu bekannte, männliche Stimme.
Leslie Anne holte tief Luft, dann wirbelte sie herum. Tad Sizemore stand vor ihr. “Was geht dich das an?”
“Gar nichts”, antwortete er mit einem blöden Grinsen. “Von mir aus kannst du es ruhig tun. Aber wenn du nicht richtig zielst, könntest du dir deinen dummen Hals brechen.”
“Ach, tatsächlich? Vielleicht will ich mir ja meinen dummen Hals brechen? Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen?”
“Oh, aber Prinzessin. Warum solltet Ihr Euch umbringen wollen?”
“Ich habe nicht gesagt, dass ich mich umbringen will.”
“Liebes, wenn man sich den Hals bricht, ist man im Allgemeinen tot.”
Leslie Anne verschränkte die Arme vor der Brust und sah Tad wütend an. “Warum haust du nicht einfach ab und lässt mich in Ruhe? Was hast du überhaupt hier zu suchen?”
“Mutter und ich essen heute mit G. W. zu Mittag”, erklärte Tad. “Ich bin schon etwas früher hier, weil ich deine Tante Sharon am Flughafen abgeholt und sie nach Hause gebracht habe. Meine Mutter kommt gleich, also lohnt es nicht, noch einmal nach Hause zu fahren. Aber ich wollte oben im Haus nicht im Weg sein, also bin ich ein bisschen spazieren gegangen.”
“Wie umsichtig von dir.”
“Hmm. Wahrscheinlich sprechen sie über dich, das weißt du ja. Du hast das ganze Haus auf den Kopf gestellt, indem du abgehauen bist. Ich wüsste gern, was dich zu dieser Aktion veranlasst hat. Du hast doch alles, was man sich wünschen kann. Der alte G. W. ist ganz vernarrt in dich. Er würde sich für dich die Hand abhacken. Und für deine Mom bist du Anfang und Ende der Welt.”
“Du kannst mich wohl nicht leiden, Tad?” Im Grunde war ihr egal, ob er sie hasste. Sie konnte ihn jedenfalls nicht ausstehen und seine Mutter, die immer so tat, als könnte sie kein Wässerchen trüben, auch nicht.
“Außer als Erbin von G. W.s Vermögen nehme ich dich überhaupt nicht wahr. Aber du und deine Mom, ihr seid meiner Mutter schon ein Dorn im Auge. Sie hat sich so viel Mühe gegeben, dass ihr sie mögt, und trotzdem …”
“Deiner Mutter ist mein Großvater doch ganz egal. Sie ist nur auf sein Geld aus, das ist alles!”
“Tessa Westbrooks Worte. Aber du bist ja das Kind
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