Das Gesicht der Anderen
Vorwarnung, beendete Dante den Kuss und schob sie weg von sich. Er atmete heftig – wie sie auch. Da standen sie und sahen einander an, die Spannung zwischen ihnen war noch deutlich zu spüren.
“Dante?”
“Alles in Ordnung, Schatz. Wir haben uns nur zu etwas hinreißen lassen. Es war meine Schuld. Ich hätte das nicht zulassen dürfen.”
Sie schüttelte den Kopf. “Ich wollte es auch … und ich brauchte es.”
“Oh, Baby …”
Er sah sie mit einem so sehnsuchtsvollen Blick an, so voller Begehren, dass es beinah wehtat, ihn anzuschauen. “Hast du
mich
geküsst oder Amy?”
Er ließ sie abrupt los. “Soll ich ganz ehrlich sein?”
“Ja.”
“Ich weiß es nicht. Ich schwöre dir, ich kann es dir nicht sagen.”
Tessa ermahnte sich, keinerlei Reaktion zu zeigen. Schließlich hatte sie vorher gewusst, was er sagen würde.
“Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte einer von meinen Kollegen den Fall übernehmen. Offensichtlich kann ich die Sache nicht mehr objektiv behandeln.”
Er warf ihr einen letzten Blick zu, mit dem er sich zu entschuldigen schien, und dann ging er. Verließ den Salon. Verließ sie.
Sein Name hallte in ihrem Kopf wider.
Dante. Dante.
Sie wollte schreien, ihn zurückholen, ihn anflehen, sie nicht zu verlassen. Spielte es eine Rolle, dass er immer noch in seine Jugendliebe verliebt war? Amy Smith war tot! Wie konnte Tessa auf eine Tote eifersüchtig sein?
Aber sie war eifersüchtig. Und es war ihr nicht egal, dass Dante Amy noch immer liebte – oder zumindest die Erinnerung an sie.
Lass ihn gehen, beschwor Tessa sich. Lass ihn gehen, bevor er dir das Herz bricht.
11. KAPITEL
“W as ist denn, Dr. Barrett?” Leslie Anne starrte den Therapeuten wütend an. “Ich dachte, Sie wären so klug. Der große Psychotherapeut, der meiner Mutter über ihre traumatischen Erlebnisse hinweggeholfen hat. Aber für mich haben Sie keinen schlauen Rat, wie es scheint.”
Sie hasste es, wie der Arzt sie ansah. So mitleidsvoll. Was dachte er sich bloß? Dass Leslie Anne Westbrook ein toller Fall wäre, vielleicht das ideale Studienobjekt für ein Buch über vererbtes abnormales Verhalten?
“Glauben Sie wirklich, dass Eddie Jay Nealy Ihr Vater ist?”, fragte Dr. Barrett.
Leslie Anne zuckte die Schultern.
Tatsache war, dass sie den Vergewaltiger ihrer Mutter eigentlich nicht für ihren Vater hielt. Aber sie glaubte auch nicht, dass dieser John Allen ihr Vater war. Auch wenn sie jahrelang gezweifelt und geahnt hatte, dass ihre Mutter und ihr Großvater sie diesbezüglich anlogen, hatte sie sich wohl doch an die kindlich-romantische Hoffnung geklammert, ihre Mutter hätte den Mann, der ihr Vater war, geliebt. Wie bescheuert! Das war so weit weg von der Wahrheit, wie es nur ging.
“Sie können nicht erwarten, dass Sie all die Informationen, die Sie heute erfahren haben, innerhalb weniger Stunden oder gar Wochen verarbeiten können”, erklärte ihr der Arzt. “Ihre Mutter hat Jahre gebraucht, bis sie sich ihren Ängsten und Zweifeln stellen konnte, sie schließlich hinter sich zu lassen und wieder ein normales Leben zu führen.”
“Und das hat sie jetzt, ein normales Leben? Sie ist nicht verheiratet. Sie hat nicht mal einen Freund. Ihr ganzes Leben dreht sich nur um drei Dinge: ihren Job bei Westbrook, Inc., um Großvater und um mich. Wenn Sie sie angeblich geheilt haben, müsste sie doch wenigstens einen Freund haben!”
“Wünschst du dir das, Leslie Anne? Dass deine Mutter heiratet?”
“Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, ich glaube, Sie haben sie nicht hundertprozentig geheilt, und deshalb werden Sie es auch nicht schaffen, mich zu heilen. Ich bin wie Humpty Dumpty, in tausend Teile zerbrochen. Und keiner, weder Sie noch sonst jemand, kann mich wieder zusammensetzen.”
Dr. Barrett blieb auf dem Pfad stehen, auf dem sie entlanggingen und der durch den gepflegten Garten des Anwesens führte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah Leslie Anne genau in die Augen. “Wenn deine Mutter heiraten würde, hättest du aber einen Stiefvater, jemanden, den du als deinen Vater betrachten könntest. Ist das vielleicht der Grund, warum du …”
“Ha!” Leslie Anne grinste und breitete in einer unaufrichtigen Geste die Arme aus. “Natürlich! Das ist es!” Sie schnippte mit den Fingern. “Spontanheilung. Finden Sie mir einen Stiefvater, mit dem ich mich gut verstehe, und dann habe ich sofort vergessen, dass durch meine Adern das Blut eines Psychopathen
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