Das Gesicht der Anderen
früher immer wieder vorgestellt hatte in der Hoffnung, sie würde einen von ihnen heiraten. Doch sie wollte das Leben restlos auskosten, sie wollte um die Welt reisen, spannende Menschen kennenlernen und mit möglichst vielen Männern ins Bett gehen. Und genau das tat sie. Ihr großer Bruder hatte ihre Sehnsucht nach einem aufregenden Leben nie verstanden, und er konnte ihr nicht verzeihen, dass sie ihn – zumindest seiner Ansicht nach – permanent blamierte. Vermutlich hatte er ihr auch nie verziehen, dass sie der jungen Tessa geraten hatte, ihre Flügel auszubreiten und hinaus zu den Wundern der Welt zu fliegen. Sie und Tessa waren früher unzertrennlich gewesen, eher Freundinnen als Tante und Nichte. Durch Sharon hatte Tessa die Bekanntschaft mit Bier, Marihuana und Männern gemacht – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Doch nach Tessas sogenanntem Unfall war aus dem lebenshungrigen Mädchen, dem Sharon so gern ihre Welt gezeigt hatte, ein völlig anderer Mensch geworden. Der rebellische Teufelsbraten, der seine Eltern täglich Nerven kostete, war durch die schrecklichen Erfahrungen zur idealen Tochter mutiert. Pflichtgehorsam, respektvoll, verlässlich. Und öde. Die arme Tessa. Ihr Schädel-Hirn-Trauma hatte mehr ausgelöscht als nur ihr Gedächtnis. Auch ihre alte Persönlichkeit.
Bis heute fühlte sich Sharon zum Teil verantwortlich für das, was ihrer Nichte zugestoßen war. Wenn sie Tessa nicht vom Pfad der Tugend abgebracht hätte, wäre sie vielleicht nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Und sie wäre nie diesem Monster Eddie Jay Nealy begegnet. Obwohl ihre Schwägerin Anne, die eine wunderbare und liebevolle Frau gewesen war, ihr vergeben hatte, haderte sie selbst immer noch mit sich. Und G. W. würde ihr nie verzeihen, das stand fest.
Tad plapperte ohne Punkt und Komma und kam vom Hölzchen aufs Stöckchen, doch Sharon hörte gar nicht hin und dachte an Leslie Anne. Als sie Fairport vor knapp vier Wochen verlassen hatte, war ihre Großnichte nichts weiter als eine blasse Kopie ihrer tugendhaften Mutter gewesen. Entsprechend überrascht war sie, als sie von Myrle in Key West angerufen wurde und erfuhr, dass die kleine Prinzessin von zu Hause ausgerissen war.
“Hast du Leslie Anne schon gesehen, seit sie wieder zu Hause ist?”, unterbrach Sharon Tad mitten im Satz.
“Nein. Aber Mutter hat heute Nacht G. W. zum Flugplatz begleitet, als sie von irgendwo in Alabama mit dem Hubschrauber einflogen. Nach dem, was G. W. Mutter erzählt hat, ist die Kleine wohl ganz schön in Schwierigkeiten geraten. Ein Mann soll versucht haben, sie in einem Motel zu vergewaltigen.”
“Was?” Hatte sie das richtig verstanden? “Hast du gerade gesagt, jemand hat versucht, Leslie Anne zu vergewaltigen?”
“So was passiert kleinen Mädchen schon mal, wenn sie von zu Hause ausreißen. Das hört man doch immer wieder, steht jeden Tag in der Zeitung. Sie hat echtes Glück gehabt, dass einer dieser Agenten, die G. W. angeheuert hat, sie gerade noch da rausholen konnte, bevor …”
“Welche Agenten?”
“Hast du noch gar nicht mit Tessa oder G. W. gesprochen?”
“Nein, nur mit Myrle. Sie schien nicht viel zu wissen. Erst hat sie mich angerufen, ich sollte dringend nach Hause kommen, weil Leslie Anne verschwunden sei. Dann rief sie noch mal an und sagte, sie hätten sie gefunden und sie wäre wieder zu Hause.”
“G. W. hat eine teure Privatdetektei angeheuert, um Leslie Anne zu finden”, erklärte Tad. “Laut Mutter hat dein Bruder ein kleines Vermögen dafür gezahlt, dass sich gleich vier Agenten des Falls annehmen.”
“Und weiß man denn, warum Leslie Anne ausgerissen ist?”
“Ich habe keine Ahnung. G. W. hat Mutter nichts gesagt. Sie machen ein großes Geheimnis daraus. Ich dachte, du könntest es vielleicht wissen.”
In Sharon stieg ein ungutes Gefühl auf. Völlig verrückte, geradezu lächerliche Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Was würde eine glückliche, in guten Verhältnissen lebende Sechzehnjährige dazu veranlassen, Hals über Kopf von zu Hause wegzulaufen?
“Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was das sein könnte”, sagte Sharon. “Teenager machen nun mal manchmal verrückte Sachen.”
“Aber doch nicht Leslie Anne.”
Das stimmt. Nicht Leslie Anne.
Und genau das bereitete Sharon Sorge. “Vielleicht hing es ihr zum Hals raus, ewig die Tugend vom Lande zu spielen.”
Lügnerin. Du weißt, dass es noch eine andere Möglichkeit gibt. Aber nein, das
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