Das Gesicht des Drachen
Ersparnisse zusammenzukratzen und sich Geld von Freunden und Verwandten zu leihen.
In seinem Vertrag mit dem Geist hatte Chang sich einverstanden erklärt, dass er, Mei-Mei und William - sowie auch Changs jüngster Sohn, sobald er alt genug war - den Restbetrag in monatlichen Raten bei den Schuldeneintreibern des Schlangenkopfs abstottern würden. Viele der illegalen Einwanderer arbeiteten direkt für den Schlepper, der sie ins Land geschmuggelt hatte - die Männer meistens in chinesischen Restaurants, die Frauen in Kleiderfabriken -, und wohnten für eine stolze Gebühr in einer seiner Bruchbuden. Chang aber misstraute den Schlangenköpfen, vor allem dem Geist. Viel zu oft hörte man von Flüchtlingen, die geschlagen, vergewaltigt und in rattenverseuchten Absteigen wie Gefangene gehalten wurden. Deswegen hatte Chang mit Hilfe des Bruders eines Freundes bereits von China aus eigene Vorkehrungen getroffen, um sich und William einen Job sowie der Familie eine Wohnung in New York zu besorgen.
Bislang hatte Sam Chang vorgehabt, seine Schulden abzuzahlen. Jetzt hingegen, nach der Versenkung der Fuzhou Dragon und den Versuchen des Geists, sie alle zu ermorden, betrachtete er den Vertrag als ungültig, und die erdrückende Last war von ihren Schultern genommen - natürlich nur, falls es ihnen glückte, so lange am Leben zu bleiben, bis die Polizei den Geist und seine bangshous verhaftet, getötet oder nach China vertrieben hatte. Das bedeutete, sie mussten so schnell wie möglich untertauchen.
Gekonnt lenkte William den Wagen durch den Verkehr. (Wo hatte er das nur gelernt? Die Familie besaß kein eigenes Auto.)
Sam Chang drehte sich zu den anderen um. Alle sahen ziemlich mitgenommen aus und stanken nach Meerwasser. Wus Frau, Yong-Ping, war in einer schlimmen Verfassung. Sie hatte die Augen geschlossen und zitterte, auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. Ihr Arm war bei dem Aufprall auf den Felsen anscheinend gebrochen, und noch immer sickerte Blut durch den provisorischen Verband. Wus hübsche, halbwüchsige Tochter, Chin-Mei, schien nicht verletzt zu sein, wirkte aber eindeutig verängstigt. Ihr Bruder Lang war im gleichen Alter wie Changs jüngster Sohn. Die beiden Jungen mit den nahezu identischen Pagenfrisuren saßen dicht nebeneinander, starrten aus dem Fenster und unterhielten sich leise.
Chang Jiechi saß mit übergeschlagenen Beinen reglos im hinteren Teil des Transporters. Seine Hände ruhten auf den Armlehnen, sein dünnes weißes Haar klebte ihm am Kopf. Er sagte nichts, verfolgte unter halb geschlossenen Lidern jedoch alles, was um ihn herum vorging. Die Haut des alten Mannes sah noch gelblicher aus als bei ihrer Abreise vor mehr als zwei Wochen in Fuzhou, aber das bildete Chang sich vielleicht auch nur ein. Wie dem auch sei, er war entschlossen, seinen Vater zu einem Arzt zu bringen, sobald sie sich erst einmal in ihrer Wohnung eingerichtet hatten.
Es gab einen Stau, und William musste anhalten. Ungeduldig drückte er auf die Hupe.
»Lass das!«, herrschte sein Vater ihn an. »Erreg keine unnötige Aufmerksamkeit.«
Der Junge hupte ein weiteres Mal.
Chang sah ihn an, musterte das schmale Gesicht seines Sohnes und das lange Haar, das ihm bis weit über die Ohren fiel. »Der Wagen... wo hast du gelernt, ihn auf diese Weise anzulassen?«, fragte er in schroffem Flüsterton.
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte William zurück.
»Antworte mir.« »Jemand in der Schule hat davon erzählt.«
»Du lügst. Du hast so etwas schon mal getan.«
»Ich beklaue nur die Staatssekretäre der Partei und die Bosse der Kommunen. Dagegen hast du doch bestimmt nichts einzuwenden, oder?«
»Was machst du?«
Aber der Junge lächelte spöttisch, und Chang erkannte, dass William sich einen Scherz erlaubt hatte. Dennoch war die Bemerkung kränkend gemeint, denn sie bezog sich auf die antikommunistischen Texte aus Changs Feder, die der Familie in China große Schwierigkeiten beschert und letztlich die Flucht nach Amerika notwendig gemacht hatten.
»Mit wem verbringst du deine Zeit? Mit Dieben?«
»Ach, Vater.« William schüttelte herablassend den Kopf, und Chang hätte ihn am liebsten geohrfeigt.
»Und wozu hattest du dieses Messer?«, fragte er stattdessen.
»Viele Leute haben Messer. Yeye hat auch eins.« Yeye war das liebevolle Wort für »Großvater«, das viele chinesische Kinder benutzten.
»Er hat ein kleines Taschenmesser, um damit seine Pfeife zu reinigen«, sagte Chang, »und nicht etwa eine
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