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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Waffe.« Ihm platzte schließlich der Kragen. »Wie kannst du nur so respektlos sein?«, rief er.
    »Wenn ich kein Messer gehabt und nicht gewusst hätte, wie man den Motor anlässt, wären wir vermutlich längst tot«, gab der Junge wütend zurück.
    Auf der Straße ging es weiter voran, und William verfiel in störrisches Schweigen.
    Chang wandte sich ab. Das Verhalten seines Sohnes, diese so andersartige Seite des Jungen, tat ihm fast körperlich weh. Oh, natürlich hatte es auch früher schon Auseinandersetzungen gegeben. Je älter der Junge geworden war, desto mehr hatte er sich mürrisch und zornig in seine eigene Welt zurückgezogen und häufig die Schule geschwänzt. Als sein Lehrer ihm dann wegen schlechter Leistungen einen schriftlichen Verweis erteilte, hatte Chang den Jungen, dem zuvor eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt worden war, zur Rede gestellt. William hatte behauptet, das sei nicht seine Schuld gewesen; vielmehr würde man ihn in der Schule schikanieren und unfair behandeln, weil sein Vater ein Dissident sei, der die Ein-Kind-Regel missachtet habe, sich für die Unabhängigkeit Taiwans ausspreche und das schlimmste Sakrileg von allen - die Kommunistische Partei Chinas und ihre harte Linie in Bezug auf Freiheit und Menschenrechte kritisiere. Sowohl er als auch sein jüngerer Bruder würden regelmäßig von manchen ihrer Mitschüler verspottet, Einzelkindern, die der wohlhabenden kommunistischen Mittelschicht entstammten, von Scharen gönnerhafter Verwandter verhätschelt wurden und zum Spaß oft andere Kinder quälten. Erschwerend komme hinzu, dass William den gleichen Vornamen wie der berühmteste amerikanische Unternehmer der letzten Jahre trage und Ronald den eines US-Präsidenten.
    Doch weder sein Verhalten noch seine diesbezügliche Erklärung waren Chang allzu bedenklich vorgekommen, und so hatte er sich keine großen Sorgen um die Launen seines Sohnes gemacht. Außerdem war es Mei-Meis Aufgabe, die Kinder zu erziehen, nicht seine.
    Wieso benahm der Junge sich auf einmal so anders?
    Doch dann wurde Chang klar, dass ihm zwischen den zehn Stunden an seinem Arbeitsplatz in der Druckerei und den politischen Aktivitäten, die beinahe jeden Abend in Anspruch nahmen, praktisch nie Zeit für seinen Sohn geblieben war - nicht bis zu der Reise von Russland nach Mei Guo. Womöglich führt der Junge sich immer so auf, dachte er erschrocken.
    Einen Moment lang kochte wieder Ärger in ihm hoch, der allerdings nur teilweise mit William zu tun hatte. Chang konnte selbst nicht sagen, worauf er eigentlich wütend war. Er starrte eine Weile auf die belebten Straßen. »Du hast Recht«, sagte er dann zu seinem Sohn. »Ich hätte den Wagen nicht in Gang bekommen. Danke.«
    William reagierte nicht darauf und saß weiterhin gedankenverloren über das Lenkrad gebeugt.
    Zwanzig Minuten später befanden sie sich in Chinatown und folgten der breiten Canal Street, deren Straßenschild sowohl chinesisch als auch englisch beschriftet war. Der Regen ließ nach, und auf den Bürgersteigen waren zahlreiche Leute unterwegs, vorbei an Lebensmittel- und Souvenirläden, Fischhallen, Juwelieren und Bäckereien.
    »Wohin müssen wir?«, fragte William.
    »Park da drüben«, wies Chang ihn an, und William hielt am Bordstein. Chang und Wu stiegen aus, gingen in ein Geschäft und fragten den Verkäufer nach den Nachbarschaftsvereinigungen, den Tongs. Diese Organisationen setzten sich für gewöhnlich aus Exilchinesen mit gemeinsamer Heimatregion zusammen. Chang erkundigte sich nach einem Fujian-Tong, da beide Familien aus dieser Provinz stammten. In einem Tong mit kantonesischen Wurzeln, dem Ursprung der meisten früheren Einwanderer, würde man sie, so fürchtete er. nicht gern willkommen heißen. Es überraschte ihn zu erfahren, dass viele Kantonesen weggezogen waren und Manhattans Chinatown heutzutage vorwiegend von ehemaligen Bürgern Fujians bevölkert wurde. Ein großer entsprechender Tong lag nur wenige Blocks entfernt.
    Chang und Wu ließen die Familien in dem gestohlenen Kleinbus zurück und gingen zu Fuß weiter, bis sie das Haus fanden. Mit der roten Fassade und dem klassisch geschwungenen chinesischen Dach hätte das schmutzige dreigeschossige Gebäude genauso gut irgendwo in dem schäbigen Viertel rund um Fuzhous nördlichen Busbahnhof stehen können.
    Hastig traten die Männer ein und hielten dabei die Köpfe gesenkt, als wollten die Leute im Eingangsbereich der Tong- Zentrale jeden Moment ihre

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