Das Gesicht des Drachen
Gleiche tun würde, was die Offiziere der Volksbefreiungsarmee und der chinesischen Sicherheitsbehörden andauernd taten, um gesuchte Dissidenten zu ergreifen - sie errichteten Straßensperren.
Also hielten sie an einem riesigen Einkaufszentrum, in dessen Mitte der Home Store lag. Der Laden hatte rund um die Uhr geöffnet, und da so früh am Morgen nur wenige Angestellte zugegen waren, konnten Chang, Wu und William problemlos über die Laderampe eindringen.
Aus dem Lager stahlen sie mehrere Dosen Farbe, Pinsel und Werkzeuge und huschten wieder hinaus. Zuvor hatte Chang sich noch kurz in den Durchgang zum Verkaufsraum geschlichen und einen Blick auf diesen erstaunlichen Ort geworfen, auf diese gewaltige Fläche voller Regalgänge. Es war atemberaubend - noch nie hatte Chang dermaßen viele Werkzeuge, Vorräte und Apparate gesehen. Komplette Kücheneinrichtungen, tausend Lampen, Gartenmöbel und Grills, Türen, Fenster, Teppiche. Ganze Reihen, in denen ausschließlich Schrauben, Muttern und Nägel angeboten wurden. Am liebsten hätte er Mei-Mei und seinen Vater geholt, um ihnen diesen Anblick zu präsentieren. Nun ja, dafür würde später noch Zeit genug sein.
»Ich nehme diese Sachen mit, weil wir sie brauchen, um unser Leben zu retten«, sagte Chang zu William. »Sobald ich amerikanisches Geld habe, bezahle ich dafür. Ich werde es per Post schicken.«
»Du bist verrückt«, entgegnete der Junge. »Die haben doch mehr als genug. Sie rechnen von vornherein damit, dass viel gestohlen wird, und holen sich die Summe über den Verkaufspreis der Waren zurück.«
»Wir werden die Sachen bezahlen!«, fuhr Chang ihn an. Diesmal würdigte William ihn keiner Reaktion.
Auf der Laderampe lag ein großer Stapel bunter Broschüren. Chang nahm ein Exemplar und erkannte trotz seiner mangelhaften Schriftkenntnisse, dass es sich um einen Werbeprospekt des Home Store handelte, in dem die Adressen mehrerer Filialen verzeichnet waren. Wenn er seine erste Lohntüte bekam oder einen Teil der Yuan eingetauscht hatte, würde er der Firma das Geld schicken.
Sie kehrten zu ihrem Transporter zurück und bemerkten einen in der Nähe abgestellten Lieferwagen. William tauschte die Nummernschilder aus, und dann fuhren sie weiter in Richtung New York, bis sie auf ein verlassenes Fabrikgelände stießen.
Dort parkten sie unter einem großen Vordach, um vor dem Regen geschützt zu sein. Chang und Wu stiegen aus und übermalten den Namen der Kirche mit weißer Farbe. Nachdem die Schicht getrocknet war, schrieb Chang - seit frühester Jugend ein geübter Kalligraph - mit fachkundigem Pinselschwung die Worte »The Home Store« auf die Flanken des Wagens und imitierte dabei exakt den Schriftzug von der Titelseite der Broschüre, die er mitgenommen hatte.
Ja, der Trick hatte funktioniert, und weder die Sicherheitsbeamten noch der Wachposten in der Kabine hatten sie aufgehalten. Jetzt verließen sie den Tunnel und bogen auf die Straßen von Manhattan ein. In der Warteschlange vor der Mautkabine hatte William sich noch einmal sorgfältig die Karte vorgenommen und wusste im Großen und Ganzen, welche Richtung sie einschlagen mussten, um nach Chinatown zu gelangen. Die vielen Einbahnregelungen sorgten zunächst für etwas Verwirrung, aber schon bald fand William sich zurecht und erreichte die Hauptstraße, die er gesucht hatte.
Mitten im dichten Berufsverkehr, der durch den zeitweiligen Regen und vereinzelte Nebelbänke noch zusätzlich verlangsamt wurde, fuhren sie entlang eines Flusses, dessen Farbton genau dem des Ozeans entsprach, dem sie gerade erst entronnen waren.
Das graue Land, dachte Chang bei sich. Weder goldene Pfade noch die Stadt der Diamanten, die der arme Kapitän Sen ihnen versprochen hatte.
Chang betrachtete die Straßen und Häuser und fragte sich, was ihm und den anderen bevorstehen mochte.
Theoretisch schuldete er dem Geist noch eine beträchtliche Summe. Der Preis für eine illegale Überfahrt von China nach Amerika lag im Allgemeinen bei etwa fünfzigtausend Dollar pro Kopf. Chang, der als Dissident unbedingt das Land verlassen musste, war davon ausgegangen, dass der Mittelsmann des Geists in Fuzhou einen besonders hohen Betrag von ihm verlangen würde. Daher hatte es ihn überrascht, als man für die Flucht seiner gesamten Familie, einschließlich seines Vaters, lediglich achtzigtausend Dollar forderte. Um die zehnprozentige Anzahlung leisten zu können, war Chang nichts anderes übrig geblieben, als all seine kärglichen
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