Das Gesicht des Fremden
Findelhaus vorbei bis zum Caroline Place – und schon war er da. Höchstens zehn Minuten, wahrscheinlich weniger. Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde, das Gerangel mit Grey eingerechnet, wäre er wieder im Klub gewesen. Er hätte es jedenfalls zu Fuß schaffen können – leicht sogar.«
Monk lächelte. Evan hatte ein dickes Lob verdient, und er sagte es ihm gern.
»Phantastisch, gut gemacht; das wäre eigentlich meine Aufgabe gewesen. Wenn es bei dem Streit um eine alte Sache ging, hat es vielleicht gar nicht so lang gedauert – sagen wir mal, zehn Minuten für den Hinweg, zehn Minuten für den Rückweg und fünf Minuten für den Kampf selbst. In einem Klub kommt es öfter vor, daß jemand für diese Zeit scheinbar verschollen ist.«
Evan blickte auf den Boden. Er war etwas rot und grinste glücklich.
»Bringt uns nur leider auch nicht viel weiter«, meinte er schließlich. »Shelburne könnte es zwar gewesen sein, genausogut aber auch jemand anders. Wir müssen wohl in den sauren Apfel beißen und alle Leute unter die Lupe nehmen, die Joscelin erpreßt haben könnte, oder? Es dauert bestimmt nicht lang, und wir sind noch berüchtigter als Frankensteins Monster. Haben Sie den Verdacht, daß es Shelburne war, Sir, wir es aber niemals beweisen können?«
Monk erhob sich.
»Ich weiß es nicht, aber ich will verdammt sein, wenn’s am mangelnden Einsatz scheitert.« Er überlegte, was Joscelin Grey auf der Krim alles durchgemacht haben mußte, während sein Bruder Lovel bequem in seinem stattlichen Herrenhaus hockte, Rosamond heiratete und immer mehr Geld und Luxusgüter anhäufte.
Ein Gefühl bodenloser Ungerechtigkeit begann an ihm zu nagen, wütend und schmerzhaft wie ein eiterndes Geschwür. Er drückte die Türklinke heftig hinunter und riß die Tür auf.
»Sir!« Evan war halb aufgesprungen. Monk wandte sich um.
Evan wußte nicht, in welche Worte er seine dunklen Ahnungen kleiden sollte, wovor er Monk warnen wollte, aber sein innerer Kampf war ihm deutlich anzusehen.
»Machen Sie nicht so ein entsetztes Gesicht«, sagte Monk ruhig, während er die Tür wieder schloß. »Ich bin auf dem Weg zu Greys Wohnung. Soweit ich mich erinnere, steht dort eine Familienfotografie, inklusive Lovel und Menard. Mich interessiert, ob Grimwade oder Yeats einen von beiden wiedererkennen. Wollen Sie mitkommen?«
Evans Gesichtsausdruck machte eine abrupte Wandlung durch. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln.
»Klar, Sir. Und ob ich will.« Er riß Mantel und Schal vom Haken. »Könnten Sie den beiden das Bild vielleicht zeigen, ohne ihnen zu verraten, wer die Männer sind? Wenn die hören , daß es sich um seine Brüder handelt – na ja, Sie wissen schon… ich meine, Lord Shelburne –«
Monk schaute ihn von der Seite her an, und Evan schnitt augenblicklich eine reuevolle Grimasse.
»Jaja, schon gut«, brummte er, während er Monk durch den Flur folgte. »Aber die Shelburnes werden sowieso alles abstreiten und uns die Hölle heiß machen, wenn wir einen von ihnen beschuldigen!«
Darüber war Monk sich im klaren, und er hatte keinen Plan, wie er sich verhalten sollte, falls tatsächlich einer von ihnen identifiziert werden würde. Trotzdem war es eine Möglichkeit, der er nachgehen mußte.
Grimwade steckte wie üblich in seinem Kämmerchen. Er schien ausgezeichneter Laune zu sein.
»Wunderbar milder Tag heute, Sir«, meinte er, zog den Kopf ein und schaute blinzelnd aus dem Fenster. »Sieht fast so aus, als ob mal die Sonne scheinen würde.«
»Hm«, bestätigte Monk mechanisch. »Tolles Wetter.« Er wußte nur, daß er nicht naß war. »Wie müssen noch mal in Major Greys Wohnung, ein paar Dinge herausholen.«
»Du meine Güte, bei so vielen von Ihnen, die an dem Fall dran sind, müssen Sie den Kerl ja bald schnappen.« In Grimwades Gesicht schlich sich ein spöttischer Ausdruck. »So ’n vielbeschäftigten Haufen hab ich wirklich noch nie gesehen, Ehrenwort!«
Monk, den Schlüssel in der Hand, befand sich bereits auf halber Höhe der Treppe, als er den tieferen Sinn von Grimwades Bemerkung erfaßte. Er blieb so abrupt stehen, daß Evan ihm in die Hacken trat.
»Oh, Verzeihung.«
»Was hat er damit gemeint?« Monk drehte sich stirnrunzelnd um. »So viele von uns? Es gibt doch nur Sie und mich – oder?«
Evans Blick verdüsterte sich. »Meines Wissens schon! Glauben Sie, Runcorn war hier?«
Monks Körper wurde steif wie ein Stock. »Warum sollte er? Schließlich will er um keinen Preis
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