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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wesentlich einfacher gewesen, in eine Wohnung einzubrechen, die nicht gerade im Brennpunkt des polizeilichen Interesses steht. Nein – sie waren auf irgend etwas anderes scharf. Das Silber und die Jade waren lediglich eine Sonderzulage. Welcher Profieinbrecher läßt außerdem ein solches Chaos zurück?«
    »Sie meinen, es war Shelburne?« Aus lauter Ungläubigkeit ging Evans Stimmlage eine halbe Oktave in die Höhe.
    Monk wußte selbst nicht, was er meinte.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, was Shelburne damit bezweckt haben sollte«, sagte er, während er seinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen ließ und sich ausmalte, wie er vorher ausgesehen hatte. »Selbst wenn noch etwas hier war, das ihm gehörte, hätte er uns Dutzende von Erklärungen auftischen können, denn schließlich ist Joscelin tot und kann nichts mehr dagegen einwenden. Er könnte zum Beispiel behaupten, es hier vergessen zu haben, egal was es war, oder daß er es Joscelin geliehen oder der es einfach genommen hat.« Er musterte den zarten Akanthusstuck an der Decke. »Und ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, daß er ein paar Männer angeheuert hat, sich falsche Polizeiausweise zu besorgen und die Wohnung seines Bruders zu plündern. Nein, Shelburne kann es nicht gewesen sein.«
    »Aber wer dann?«
    Monk stellte erschrocken fest, daß das Ganze plötzlich keinen Sinn mehr ergab. Alles, was noch vor zehn Minuten halbwegs vernünftig geklungen hatte, paßte auf einmal nicht mehr zusammen, vergleichbar mit zwei Puzzleteilchen, die aus zwei vollkommen verschiedenen Motiven stammten. Andererseits war er beinah in Hochstimmung, denn wenn nicht Shelburne hierfür verantwortlich war, sondern jemand, der sich mit Fälschern und Einbrechern auskannte, hatte es vielleicht nie ein skandalträchtiges Geheimnis und infolgedessen auch keine Erpressung gegeben.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte er in unerwartet energischem Ton. »Aber um das herauszufinden, müssen wir nicht mit Samthandschuhen vorgehen und auf Zehenspitzen durch die Gegend schleichen. Niemand wird uns unsren Job wegnehmen, nur weil wir ein paar Fälschern unangenehme Fragen stellen, einen Spitzel schmieren oder einem Hehler ein bißchen auf die Füße treten.«
    Evans Gesicht entspannte sich. Seine Augen leuchteten auf, sein Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln. Monk überlegte, daß er bislang wahrscheinlich kaum mit der Unterwelt in Berührung gekommen war, so daß sie für ihn noch im vollen Glanz des Geheimnisvollen erstrahlte. Nur zu bald würde er die dunklen Flecken darin entdecken: das Grau des Elends, das Schwarz des lebenslangen Leids und der ständigen Angst. Und er würde den schrillen Galgenhumor kennenlernen, der allgegenwärtig war.
    Evan konnte es offensichtlich nicht erwarten, endlich die wahren Herausforderungen eines kriminalistischen Ermittlungsverfahrens kennenzulernen und in das Herz von Laster und Verbrechen vorzudringen.
    »Ja«, nahm Monk den Faden wieder auf. »In dieser Angelegenheit können wir ganz so verfahren, wie es uns beliebt.« Und Runcorn einen Strich durch die Rechnung machen, fügte er im stillen hinzu.
    Er ging, dicht gefolgt von Evan, zur Tür. Das Aufräumen konnten sie sich sparen; besser, alles blieb, wie es war. Selbst dieses Chaos konnte einen Hinweis enthalten – ein andermal.
    In der Diele fiel sein Blick eher zufällig auf den Stockständer, den er schon früher bemerkt, sich jedoch nicht genauer angesehen hatte, weil er mit den Spuren der Gewalt im Wohnzimmer beschäftigt gewesen war. Außerdem hatten sie den Stock, der als Tatwaffe fungiert hatte, bereits sichergestellt. Jetzt sah er, daß noch vier weitere Exemplare vorhanden waren. Vielleicht hatte Grey, da er gewöhnlich einen Spazierstock als Gehhilfe verwenden mußte, im Lauf der Zeit eine Sammlerleidenschaft entwickelt. Das wäre nicht verwunderlich gewesen; nach dem zu urteilen, was über ihn bekannt war, hatte er viel Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt. Wahrscheinlich hatte er einen Stock für den Morgen besessen, einen für den Abend, einen saloppen für die Freizeit und einen robusteren für den Aufenthalt auf dem Land.
    Monks Augen blieben an einem dunkelmahagonifarbenen Prachtstück hängen. Direkt unterhalb des Knaufs war ein schmaler Messingstreifen eingehämmert, der die Form einer Gliederkette hatte. Der Anblick löste ein fast schwindelerregendes Gefühl in ihm aus – er wußte mit völliger Sicherheit, daß er diesen Stock schon gesehen hatte,

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