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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wollen, verkniff es sich jedoch, nahm statt dessen eine Hand aus der Tasche und legte den Arm um ihre Schultern. »Sie sind nicht bei ihm gewesen?« fragte er Monk, der nach wie vor kein Land sah.
    »Nein. Er war nicht in der Stadt.« Das hörte sich halbwegs glaubhaft an.
    »Armer Joscelin.« Imogen nahm weder ihren Mann noch die Hand auf ihrer Schulter wahr, deren Griff sich leicht verstärkte.
    »Er muß sich furchtbar gefühlt haben. Natürlich konnte er nichts dafür, er wurde genauso um sein Geld betrogen wie alle andern, aber er gehörte zu den Menschen, die immer zuerst sich selbst die Schuld geben.« Die Worte klangen traurig und sanft; sie enthielten nicht die leiseste Spur von Tadel.
    Monk konnte lediglich raten, nachzufragen traute er sich nicht. Grey war offenbar an dem Unternehmensprojekt beteiligt gewesen, bei dem Latterly senior – und auf seine Empfehlung hin all seine Freunde – so viel Geld verloren hatte. Folglich mußte auch Joscelin einen großen finanziellen Verlust erlitten haben, was er sich schwerlich hatte leisten können. Daher vielleicht die Bitte um einen höheren Familienzuschuß? Dem Datum auf dem Brief des Anwalts nach zu urteilen, kam es zeitlich ungefähr hin. Vermutlich hatte dieses finanzielle Debakel Joscelin Grey dazu verleitet, um Unsummen zu spielen oder sich auf das Niveau eines Erpressers zu begeben. Mit den Gläubigern im Nacken und dem drohenden gesellschaftlichen Skandal vor Augen hatte er allen Grund, verzweifelt zu sein. Außer seinem Charme hatte er nichts zu bieten; sein Unterhaltungswert öffnete ihm die Türen zur Gastfreundschaft anderer Häuser und war der einzige Weg, der zu einer reichen Erbin führte, die ihn letzten Endes aus der Abhängigkeit von seiner Mutter und seinem ungeliebten Bruder befreien konnte.
    Aber wer? Wer aus seinem Bekanntenkreis war verwundbar genug, um Schweigegeld zu zahlen – und wer so verzweifelt und blutrünstig, daß er sogar vor Mord nicht zurückschreckte?
    In welchen Häusern hatte Grey verkehrt? Im Verlauf eines langen Wochenendes auf dem Land konnte man Zeuge aller möglichen Indiskretionen werden. Ein Skandal wurde nicht durch das heraufbeschworen, was geschah, sondern durch das Wissen, daß etwas geschehen war. War Joscelin über einen sorgsam gehüteten Ehebruch gestolpert?
    Aber Ehebruch war kein Grund zum Töten, es sei denn, es existierte ein erbberechtigtes Kind oder das Paar steckte in einer Krise, wie es bei einem laufenden Scheidungsverfahren und der anschließenden gesellschaftlichen Ächtung der Fall gewesen wäre. Für einen Mord bedurfte es eines verfänglicheren Geheimnisses, Blutschande etwa, Perversion oder Impotenz. Der Himmel allein wußte, warum Impotenz als entsetzliche Schmach betrachtet wurde, aber sie galt als abscheulichste aller Heimsuchungen, als etwas, worüber man nicht einmal hinter vorgehaltener Hand sprach.
    Runcorn hatte recht. Die bloße Erwähnung einer solchen Möglichkeit würde reichen, um bei oberster Instanz Beschwerde gegen ihn einlegen und seine Karriere für immer blockieren zu können wenn man ihn nicht gleich vor die Tür setzte. Man würde ihm niemals verzeihen, daß er einen Mann dem Ruin ausgesetzt hatte, der einer derartigen Enthüllung zwangsläufig folgen mußte.
    Charles, Hester, Imogen – sie alle starrten ihn an. Charles machte keinen Hehl daraus, daß er mit seiner Geduld am Ende war. Hester war so wütend, daß sie sich kaum noch beherrschen konnte. Ihre Finger fummelten nervös an ihrem Baumwolltaschentuch herum, ihr rechter Fuß wippte schnell und lautlos gegen den Boden. Was sie dachte, war jedem Quadratzentimeter ihres Gesichts deutlich anzusehen.
    »Was müßten Sie Ihrer Ansicht nach sonst noch wissen, Mr. Monk?« erkundigte sich Charles scharf. »Wenn das alles war, möchte ich Sie bitten, uns in Zukunft nicht weiter zu quälen, indem Sie an Dinge rühren, die für uns nur schmerzhaft sind. Ob mein Vater sich nun das Leben genommen hat oder aufgrund seiner Zerstreutheit einen Unfall erlitt, läßt sich nicht beweisen, aber wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Leute, die nachsichtig genug sind, es als Unfall zu betrachten, auch in ihrem Glauben ließen! Meine Mutter starb, weil sie seelisch gebrochen war, und einer unserer Freunde wurde brutal ermordet. Wenn wir Ihnen ohnehin keine Hilfe mehr sein können, würde ich vorschlagen, Sie lassen uns in Ruhe und geben uns die Möglichkeit, auf unsre Weise mit all dem fertig zu werden. Vielleicht können wir dann

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