Das Gesicht des Fremden
ließ ihn allein.
Monk beschäftigte sich wieder mit dem Mordfall Grey, aber sowohl Imogen Latterlys unvergeßliche Augen als auch Hester Latterly mit ihrem Zorn und ihrer raschen Auffassungsgabe gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er mußte sich zwingen, seine Konzentration auf den aktuellen Stand der Ermittlungen zu lenken und die amorphe Masse von Fakten und Mutmaßungen, über die sie bisher verfügten, zu einem Bild zusammenzusetzen.
Er saß mit Evan in seinem Büro, und sie versuchten gemeinsam, aus der wachsenden Anzahl der Informationen schlau zu werden. Der gesamte Tatbestand erwies sich als wenig schlüssig und ohne Beweiskraft. Nur eins stand fest: Da nichts auf ein gewaltsames Eindringen des Mörders hinwies, mußte Grey ihn selbst hereingelassen haben – und wenn das der Fall war, war er sich nicht bewußt gewesen, daß er Grund hatte, die Person zu fürchten. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß er um diese Zeit einen Fremden empfangen hatte.
Oder war Grey über die Gefühle seines Mörders im Bilde gewesen, hatte sich aber davor in Sicherheit gewähnt? Hatte er geglaubt, der Betreffende wäre aus irgendeinem Grund nicht in der Lage, ihn anzugreifen? Nicht einmal darauf wußte Monk die Antwort.
Sowohl Yeats’ als auch Grimwades Personenbeschreibungen des möglichen Täters paßten nicht auf Lovel Grey, allerdings waren sie so ungenau, daß es nicht viel heißen mußte. Falls Rosamond Greys Sohn tatsächlich Joscelins und nicht Lovels Kind war, würde das als Mordmotiv durchaus genügen – vor allem wenn Joscelin es wußte und Lovel ständig daran erinnerte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß eine höhnische, grausame Bemerkung, über Impotenz beispielsweise, einen unkontrollierten Gefühlsausbruch zur Folge hatte.
An diesem Punkt riß Evan ihn aus seinen Überlegungen; es schien fast so, als könne er Gedanken lesen.
»Glauben Sie, Shelburne hat Joscelin selbst umgebracht?«
Seine Stirn war in Falten gelegt, sein Gesichtsausdruck besorgt, die großen Augen umwölkt. Um seine eigene Karriere konnte er kaum fürchten, weder die Regierung noch die Shelburnes würden ihm die Schuld an dem Skandal in die Schuhe schieben. Zitterte er für seinen Vorgesetzten? Ein erwärmender Gedanke.
Monk blickte auf.
»Nicht unbedingt. Aber wenn er irgendwen dafür bezahlt hätte, wäre derjenige sauberer und schneller vorgegangen – und weniger brutal. Profikiller erschlagen ihre Opfer normalerweise nicht. Sie erstechen oder erdrosseln sie; und das nicht in deren Wohnung.«
Evans empfindsamer Mund verzog sich angewidert. »Sie meinen eine Attacke auf offener Straße, in einem einsamen Winkel, wo alles ganz schnell vorbei ist?«
»So ungefähr. Und die Leiche wird in einer finsteren Gasse zurückgelassen, in der sie nicht so bald gefunden wird, vorzugsweise nicht in der Nähe ihrer ehemaligen Wohnung. Auf diese Weise wird das Risiko verringert, mit dem Opfer in Verbindung gebracht oder wiedererkannt zu werden.«
»Vielleicht war er in Eile und konnte den richtigen Ort und die richtige Zeit nicht mehr abwarten?« schlug Evan vor, während er sich samt seinem Stuhl zurücklehnte und zu kippeln begann.
»Wozu in Eile sein?« Monk zuckte mit den Schultern. »Falls es Shelburne war, bestand kein Grund zur Eile, schon gar nicht, wenn es um Rosamond ging. Da hätten ein paar Tage mehr oder weniger kaum eine Rolle gespielt.«
»Stimmt.« Evan ließ die vorderen Stuhlbeine wieder auf den Boden sinken. »Ich hab nicht die leiseste Ahnung, wie wir irgendwas beweisen wollen. Ich weiß nicht mal, wo anfangen.«
»Finden Sie heraus, wo sich Shelburne zur Tatzeit aufgehalten hat. Das hätte ich eigentlich längst tun sollen.«
»Oh, danach hab ich mich bereits bei den Bediensteten erkundigt – ganz unauffällig, versteht sich.« Trotz seiner Überraschung konnte Evan eine gewisse Genugtuung nicht verbergen.
»Und?« fragte Monk gespannt, um ihm nicht die Freude zu verderben.
»Er war nicht zu Hause; man hatte ihnen gesagt, er würde das Dinner in der Stadt einnehmen. Ich bin der Sache nachgegangen, und das mit dem Dinner stimmt. Den Rest des Abends verbrachte er in seinem Klub, in der Nähe vom Tavistock Place. Es wäre etwas schwierig für ihn gewesen, zur rechten Zeit am Mecklenburg Square zu sein, weil man ihn leicht hätte vermissen können, aber unmöglich war es nicht. Er mußte bloß die Compton Street entlanggehen, rechts in die Hunter abbiegen, um den Brunswick Square herum, am Lansdowne Place und dem
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