Das Gesicht des Fremden
Sergeants am Aufnahmeschalter nach zu schließen. Doch die Erinnerung an die Wärme und Geborgenheit von Northumberland reichte aus, ihm neuen Auftrieb zu geben. Und schließlich mußte er wieder arbeiten. Das Geld wurde allmählich knapp.
John Evan entpuppte sich als großgewachsener, junger Bursche. Er war sehr mager, wirkte fast schon schwächlich, aber Monk schloß aus der Art seiner Haltung, daß dieser Eindruck trog; durchaus vorstellbar, daß der Körper unter dem recht eleganten Jackett ziemlich drahtig war, zudem sah er in der relativ schicken Aufmachung vollkommen natürlich aus, nicht die Spur weibisch. Sein feingeschnittenes Gesicht schien nur aus Augen und Nase zu bestehen, das wellige, honigfarbene Haar war aus der Stirn gekämmt. Er machte einen ausgesprochen intelligenten Eindruck, was Monk einerseits als notwendige Voraussetzung erachtete, ihm andererseits aber auch etwas Angst einjagte. Er fühlte sich einem Kollegen mit klarem Verstand und rascher Auffassungsgabe noch nicht gewachsen.
Was das betraf, hatte er allerdings kaum ein Wörtchen mitzureden. Runcorn machte die beiden miteinander bekannt und knallte einen Wust Unterlagen auf den breiten, zerkratzten Holzschreibtisch in Monks Büro, einem angenehm großen Raum mit etlichen Aktenschränken und Bücherregalen sowie einem Schiebefenster, das auf eine schmale Gasse hinausging. Bei dem Teppich handelte es sich offenbar um das ausrangierte Stück aus irgendeinem Privathaushalt, doch das war immer noch besser als der blanke Holzfußboden, außerdem standen zwei recht ansehnliche Stühle mit Ledersitzen darauf. Runcorn ging hinaus und ließ sie allein.
Evan zögerte einen Moment, da er Monks Autorität nicht untergraben wollte, streckte dann aber, als dieser sich nicht vom Fleck rührte, einen langen Finger aus und tippte damit auf den Papier Stapel.
»Das hier sind sämtliche Zeugenaussagen, Sir. Leider nicht besonders hilfreich, fürchte ich.«
Monk stellte die erstbeste Frage, die ihm einfiel.
»Waren Sie dabei, als Mr. Lamb die Zeugen verhörte?«
»Ja, nur beim Straßenfeger nicht. Ich war gerade dabei, den Kutscher ausfindig zu machen, als er bei ihm war.«
»Den Kutscher?« Für den Bruchteil einer Sekunde gab Monk sich der wilden Hoffnung hin, der Mörder wäre gesehen worden, hätte seine Identität preisgegeben, so daß man nur noch seinen Aufenthaltsort herauskriegen mußte, doch er begrub den Gedanken gleich wieder. Sie hätten kaum sechs Wochen gebraucht, wenn es so einfach wäre, zudem war ihm in Runcorns Gesicht ein provozierender Ausdruck aufgefallen, fast eine Art perverse Befriedigung.
»Der Kutscher, der Mr. Grey nach Hause gefahren hat, Sir«, machte Evan seine Hoffnungen mit bedauernder Miene endgültig zunichte.
»Ach so.« Monk wollte ihn fragen, ob der Mann irgend etwas Brauchbares zu sagen gehabt hatte, dachte dann aber bei sich, was für einen unfähigen Eindruck das machen mußte.
Schließlich lagen sämtliche Unterlagen direkt vor ihm. Er nahm das oberste Blatt in die Hand und begann zu lesen, während Evan schweigend am Fenster stand und wartete.
In sauberer, klarer Schrift stand oben auf der Seite die Zeugenaussage von Mary Ann Brown, die in besagter Straße Bänder und Spitzen verkauft hatte. Monk stellte sich vor, wie man ein wenig an der Grammatik des Originals herumgebastelt und ein paar Hauchlaute hinzugefügt hatte, doch am Grundtenor hatte sich dadurch nichts geändert.
»Ich stand an meinem üblichen Platz in der Doughty Street in der Nähe vom Mecklenburg Square – wie ich das immer tue, gleich an der Ecke, wo ich genau weiß, daß da in den Häusern jede Menge feine Damen wohnen, besonders so welche, die sich von ihren Mädchen die Sachen nähen lassen, Sie wissen schon.«
Frage von Mr. Lamb: »Sie sind also um sechs Uhr am fraglichen Abend dort gewesen?«
»Muß ich wohl, aber ich weiß nicht, wie spät es war, ich hab nämlich keine Uhr. Jedenfalls hab ich den Herrn ankommen sehen, der ermordet wurde. Schrecklich, wenn nicht mal mehr sicher ist, was Rang und Namen hat.«
»Sie sahen Major Grey ankommen?«
»Jawohl, Sir. Ein Gentleman, wie er im Buche steht, so richtig fröhlich und unbeschwert.«
»War er allein?«
»Ja, Sir, er war allein.«
»Ging er direkt ins Haus? Nachdem er den Kutscher bezahlt hat, selbstverständlich?«
»Ja, Sir, das tat er.«
»Wann haben Sie den Mecklenburg Square verlassen?«
»Weiß ich nicht genau. Aber die Glocke von St. Mark schlug die Viertelstunde,
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