Das Gesicht des Fremden
Überall lagen Zeitungen herum, dennoch wirkte er trotz einer gewissen, für Behörden typischen Nüchternheit gemütlich. Die Gaslampen an den Wänden stießen ein leises, beruhigendes Zischen aus. Runcorn saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch und kaute auf einem Füllfederhalter.
»Äh!« machte er zufrieden, als Monk hereinkam. »Wieder auf den Beinen, was? Wird auch Zeit. Es gibt nichts Besseres als Arbeit – ein Mann braucht das. Na, dann setzen Sie sich mal. Im Sitzen läßt sich’s besser denken.«
Monk kam der Aufforderung nach, jeden Muskel zum Zerreißen gespannt. Er glaubte, sein Atem ginge so schwer, daß er selbst das Zischen der Gaslampen übertönen mußte.
»Schön, schön«, fuhr Runcorn fort. »Haufenweise unerledigte Fälle, wie immer. Ich wette, in manchen Vierteln dieser Stadt wird mehr geklaut als auf ehrliche Art und Weise erworben und verkauft.« Er schob einen Stapel Unterlagen zur Seite und stellte seinen Füllfederhalter in den Ständer zurück. »Die Londoner Hochstaplergilde hat immer mehr Zulauf. Denken Sie bloß an diese schrecklichen, gigantischen Reifröcke! Reifröcke sind nur erfunden worden, damit man die Leute besser bestehlen kann. Unmöglich, bei so vielen Unterröcken noch zu merken, wenn einer an einem herumgrapscht! Aber das soll nicht Ihr Problem sein, für Sie hab ich was besonders Hübsches zum Zähneausbeißen.« Er lächelte freudlos.
Monk wartete schweigend.
»Einen Mord von der übelsten Sorte.« Er lehnte sich zurück und schaute Monk direkt in die Augen. »Es ist uns bis jetzt nicht gelungen, auch nur das geringste herauszukriegen, obwohl wir wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt haben. Lamb war mit der Sache betraut, aber jetzt ist der arme Kerl krank und muß das Bett hüten. Ich werde Sie auf den Fall ansetzen. Machen Sie Ihre Sache gut, Monk, wir müssen langsam mit Resultaten aufwarten.«
»Wer wurde ermordet?« wollte Monk wissen. »Und wann?«
»Ein Bursche namens Joscelin Grey, Lord Shelburnes jüngerer Bruder. Sie sehen, es ist ziemlich wichtig, daß wir die Angelegenheit aufklären.« Sein Blick ruhte unverwandt auf Monks Gesicht. »Wann? Tja, das ist das Schlimme – schon vor einer ganzen Weile, und wir haben bisher nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die Tat liegt fast sechs Wochen zurück, geschah etwa zur selben Zeit wie Ihr Unfall. Halt – wenn ich genau darüber nachdenke, fiel sie sogar damit zusammen. Eine fürchterliche Nacht war das, es donnerte und blitzte und schüttete wie aus Kübeln. Wahrscheinlich ist ihm irgendein Halunke nach Hause gefolgt, aber er hat seinen Job ziemlich lausig erledigt, hat den armen Kerl bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen. Für die Zeitungen war das natürlich ein gefundenes Fressen. Wo bleibt die Gerechtigkeit, wie weit ist es mit der Welt bloß gekommen, hat die Polizei die ganze Zeit nichts zu tun und so weiter, und so fort. Können Sie sich ja vorstellen. Sie bekommen natürlich sämtliche Informationen, die der arme Lamb bisher zusammengekratzt hat, außerdem einen guten Mann, der Ihnen helfen soll. Sein Name ist Evan, John Evan; hat schon mit Lamb zusammengearbeitet, bis der krank wurde. Versuchen Sie Ihr Glück. Liefern Sie den Leuten irgendwas!«
»Jawohl, Sir.« Monk erhob sich. »Wo finde ich Mr. Evan?«
»Der ist irgendwo unterwegs; die Spur ist inzwischen ziemlich kalt. Legen sie morgen früh los, frisch und ausgeruht. Heute ist es zu spät. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus, ist Ihre letzte Nacht in Freiheit, hm? Machen Sie das Beste draus; ab morgen müssen Sie schuften wie ein Schienenleger!«
»Verstanden, Sir.« Monk entschuldigte sich und ging. Draußen dämmerte es bereits, und der Wind wehte ihm den Geruch von kommendem Regen ins Gesicht, aber er wußte, wohin er gehen würde, und er wußte, was er morgen zu tun hatte. Er hatte eine Identität – und ein Ziel.
2
Monk traf zeitig in der Wache ein, um sich mit John Evan und den Fakten vertraut zu machen, die Lamb bisher über den Mord an Lord Shelburnes Bruder Joscelin Grey in Erfahrung gebracht hatte.
Er war nach wie vor von dunklen Ahnungen überfallen; bislang hatte er nichts als Banalitäten über sich selbst herausbekommen, Kleinigkeiten, wie man sie ohne große Menschenkenntnis bei jedermann entdeckt: spezifische Vorlieben und Abneigungen, gewisse Eitelkeiten – die hatte ihm seine Garderobe klar vor Augen geführt und seine Umgangsformen, mit denen es offensichtlich nicht weit her war, dem Benehmen des
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