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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hätte er sich an irgendeine Rechtfertigung geklammert, doch der Geldbetrag in seinem Schreibtisch in der Grafton Street sprach eher dafür, daß es ihm zumindest in letzter Zeit nicht allzu schlecht gegangen sein konnte.
    Er zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach der Erinnerung an eine Gefühlsregung, irgendeine blitzartige Erleuchtung, was für ein Mensch er gewesen war, worauf es ihm im Leben angekommen war – vergebens. Rein gar nichts fiel ihm ein, auch keine Ausflüchte, weshalb er anscheinend immer nur mit sich selbst beschäftigt war.
    Er verabschiedete sich von Bern und Rob und dankte ihnen recht unbeholfen für den freundlichen Empfang, was die beiden verwunderte und verlegen machte. Durch ihr Verhalten wurde auch ihm das Ganze peinlich, aber er meinte es wirklich ernst. Weil sie Fremde für ihn waren, hatte er das Gefühl, sie hätten ihn, der auch für sie ein Fremder sein mußte, bei sich aufgenommen und ihm jede Menge Verständnis, ja Vertrauen entgegengebracht. Die beiden machten verwirrte Gesichter, Beth wurde sogar rot, aber er versuchte nicht, es ihnen zu erklären. Zum einen hatte er keine Worte parat, zum andern wollte er gar nicht, daß sie Bescheid wußten.
    London kam ihm riesig, schmutzig und gleichgültig vor, als er aus dem Zug stieg und den pompösen, rauchgeschwängerten Bahnhof verließ. Er nahm einen Hansom zur Grafton Street, meldete Mrs. Worley seine Rückkehr, ging dann nach oben und wechselte die zerknitterte Reisekleidung gegen frische. Danach machte er sich auf den Weg zu dem Polizeirevier, dessen Namen Runcorn im Gespräch mit dem Pfleger erwähnt hatte. Die Erlebnisse in Northumberland und seine Schwester Beth hatten sein Selbstbewußtsein etwas gestärkt. Auch der Gang zur Polizei war ein Ausflug ins Ungewisse, doch mit jedem Schritt, den er ohne unliebsame Überraschungen hinter sich brachte, ließen seine Befürchtungen nach.
    Er stieg aus der Kutsche, bezahlte den Fahrer und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Das Polizeirevier war ihm genausowenig bekannt wie alles andere – nicht direkt fremd, einfach ohne jeden Funken Vertrautheit. Er öffnete die Tür und ging hinein, erblickte einen Sergeant am Dienstschalter und fragte sich, wieviel hundertmal er wohl schon haargenau das gleiche getan hatte.
    »Tag, Mr. Monk.« Der Mann schaute ihn leicht überrascht und ohne ersichtliche Freude an. »Dumme Sache, das mit dem Unfall. Geht’s wieder besser, Sir?«
    Seine Stimme klang frostig, mißtrauisch. Monk besah ihn sich genauer. Der Mann war etwa vierzig, hatte ein rundes Gesicht und machte einen sanften und vielleicht etwas unsicheren Eindruck – ein Mann, der leicht einzunehmen und leicht zu vernichten war. Tief in Monk regte sich Scham, wofür er außer der Vorsicht in den Augen seines Gegenübers keinerlei Grund finden konnte. Offenbar rechnete er damit, daß Monk etwas sagen würde, worauf ihm keine entsprechende Antwort einfiel. Er war ein Untergebener, schwerfällig mit Worten, und das wußte er.
    »Ja, vielen Dank.« Monk erinnerte sich nicht an den Namen des Mannes, sonst hätte er ihn gebraucht. Er spürte Selbstverachtung in sich hochsteigen; welcher Mensch stieß jemand vor den Kopf, der nicht in der Lage war zurückzuschlagen? Warum? Hatte sich der andere irgendwann einmal als unfähig oder hinterhältig erwiesen erklärte das die Spannung?
    »Sie wollen bestimmt zu Mr. Runcorn, Sir.« Der Sergeant schien keine Veränderung an Monk zu bemerken und war offenbar ganz versessen darauf, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.
    »Ja, bitte – sofern er da ist.«
    Der Mann trat einen Schritt zur Seite und ließ Monk durch. Auf der anderen Seite blieb Monk stehen; er kam sich absolut lächerlich vor. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Richtung er einschlagen sollte, und würde gewiß Argwohn erregen, wenn er sich für den falschen Weg entschied. Es durchfuhr ihn siedendheiß, daß man seinetwegen kaum bereit war, Konzessionen zu machen – hier mochte man ihn nicht.
    »Sind Sie in Ordnung, Sir?« erkundigte sich der Sergeant besorgt.
    »Jaja, mir geht’s gut. Sitzt Mr. Runcorn« – er warf einen Blick in die Runde und tippte auf gut Glück – »immer noch da oben, am Ende der Treppe?«
    »Genau, Sir, wie eh und je.«
    »Danke.« Damit stapfte Monk hastig die Treppe hinauf; er fühlte sich wie ein Vollidiot.
    Runcorns Büro war das erste im Gang. Monk klopfte an und trat ein. Der Raum war düster, mit Aktenschränken und Aktenkörben vollgestopft.

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