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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Runcorn erwartete ihn in seinem Büro.
    »Immer noch keine Festnahme?« fragte er mit boshaftem Vergnügen. »Keine Anklageerhebung?«
    Monk machte sich nicht die Mühe zu antworten.
    »Monk!« Runcorns Faust knallte auf den Tisch.
    »Ja, Sir?«
    »Sie haben John Evan nach Shelburne geschickt, um die Dienstboten auszufragen?«
    »Ja. Ist es nicht genau das, was Sie wollten?« Monk hob spöttisch die Brauen. »Beweise gegen Lord Shelburne?«
    »Da draußen werden Sie die nicht finden. Wir kennen sein Motiv. Was wir brauchen, ist ein Beweis, daß er die Gelegenheit hatte. Jemand, der ihn hier in London gesehen hat.«
    »Ich werde mich danach umsehen«, erwiderte Monk in beißend ironischem Ton. Innerlich mußte er lachen, was Runcorn keineswegs entging, aber sein Vorgesetzter hatte keine Ahnung weshalb, und das machte ihn fuchsteufelswild.
    »Sie hätten sich den ganzen letzten Monat umsehen sollen!« brüllte er. »Was, zum Teufel, haben Sie, Monk? Sie waren zwar immer ein knallharter, arroganter Kerl mit Aufsteigerallüren, aber sie waren wenigstens ein guter Polizist. Jetzt benehmen Sie sich wie ein Idiot. Dieser Schlag auf den Kopf scheint in Ihrem Gehirn was durcheinandergebracht zu haben. Brauchen Sie vielleicht noch mehr Genesungsurlaub?«
    »Ich bin völlig in Ordnung.« Monk fühlte sich hundsmiserabel. Zu gern würde er diesem Mann, der ihn so sehr haßte und letzten Endes den Sieg davontragen würde, ein wenig angst machen. »Aber vielleicht sollten Sie den Fall übernehmen. Sie haben recht, ich komme nicht weiter.« Er sah Runcorn unerschüttert in die Augen. »Die maßgeblichen Stellen wollen Resultate sehen – nehmen Sie es lieber selbst in die Hand.«
    »Sie halten mich wohl für einen Dummkopf! Ich habe Evan eine Nachricht schicken lassen. Er ist morgen wieder hier.« Runcorn hob einen dicken Zeigefinger und schwenkte ihn drohend vor Monks Gesicht. »Nehmen Sie Shelburne noch diese Woche fest, oder Sie sind den Fall los.« Mit diesen Worten stolzierte er hinaus.
    Monk starrte ihm nach. Er hatte Evan also zurückgepfiffen. Die Zeit war noch knapper, als er befürchtet hatte. Es würde nicht mehr lang dauern, dann mußte Evan zu dem gleichen Schluß kommen wie er selbst – und das bedeutete das Ende.
    Evan kam tatsächlich am nächsten Tag zurück. Sie hatten sich zum Mittagessen in einer verrauchten Schenke verabredet. Es roch nach verschwitzten Körpern, verschüttetem Bier, Sägemehl und undefinierbarem Gemüseeintopf.
    »Irgendwas Neues?« erkundigte sich Monk der Form halber. Hätte er es unterlassen, wäre das aufgefallen.
    »Jede Menge Verdachtsmomente«, sagte Evan stirnrunzelnd.
    »Aber manchmal frag ich mich, ob ich sie nur mitbekomme, weil ich muß.«
    »Sie meinen, Sie denken sich womöglich welche aus?«
    Evan warf Monk einen raschen, verheerend offenen Blick zu.
    »Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß er es war, oder, Sir?« Konnte er die Wahrheit so schnell erkannt haben? Blitzschnell ging Monk alle in Frage kommenden Antworten durch. Würde Evan es merken, wenn er log? Hatte er ihn bereits durchschaut? War er raffiniert genug, Monk ganz sanft in die eigene Falle zu locken? Wußte vielleicht sogar die gesamte Abteilung Bescheid und wartete nur darauf, daß er sich selbst ans Messer lieferte, daß er seine eigene Verurteilung herbeiführte? Einen Moment lang wurde Monk von grenzenloser Furcht überwältigt; der ausgelassene Wirtshaustrubel verwandelte sich in den Lärm eines Tollhauses – irr, inhaltslos, verfolgend. Ja, alle wußten es. Sie fieberten dem Augenblick entgegen, in dem er sich verraten und das Geheimnis preisgeben würde. Und dann würden sie Farbe bekennen, lachend mit den Handschellen klappern, Fragen stellen, sich beglückwünschen, daß ein weiterer Mordfall gelöst war; es käme eine Gerichtsverhandlung, ein kurzer Gefängnisaufenthalt und schließlich das feste, starke Seil, ein schneller Schmerz – und das Nichts.
    Aber warum? Warum hatte er Joscelin Grey ermordet? Wohl kaum, weil Grey dem Bankrott der Tabakfirma entronnen war, selbst wenn er daraus Profit geschlagen hatte?
    »Sir? Sir – sind Sie in Ordnung?« Wie von fern bohrte sich Evans Stimme in das entsetzliche Gefühl der Panik. Verschwommen sah er, wie ihn sein Kollege ängstlich musterte.
    »Sie sehen ein bißchen blaß aus, Sir. Geht es Ihnen gut?«
    Monk zwang sich, gerade zu sitzen und Evans Blick zu begegnen. Hätte er in diesem Moment einen Wunsch äußern dürfen, dann den, daß Evan es niemals

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