Das Gesicht des Fremden
erfuhr. Imogen Latterly war nie mehr gewesen als ein Traum, ein Fingerzeig, daß er zu menschlicheren Gefühlen als kaltem Ehrgeiz imstande war – Evan dagegen ein Freund. Vielleicht hatte es einmal auch andere gegeben, aber davon wußte er nichts mehr.
»Ja«, sagte er vorsichtig. »Danke, machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe nur nachgedacht. Sie haben recht: Ich halte Shelburne nicht für den Täter.«
Evan beugte sich eifrig vor.
»Ich bin froh, daß Sie das sagen, Sir. Lassen Sie sich nicht von Mr. Runcorn in die Enge treiben.« Seine langen Finger spielten mit dem Brot; er war zu aufgeregt, um etwas hinunterzukriegen. »Der Täter muß jemand aus London sein. Ich bin unsre und Mr. Lambs Aufzeichnungen noch mal durchgegangen, und je länger ich darin gelesen habe, desto sicherer bin ich geworden, daß es irgendwas mit Geld zu tun hat, mit Geschäften. Joscelin Grey hat ein wesentlich luxuriöseres Leben geführt, als der Familienzuschuß erlaubt hätte.« Er legte die Gabel aus der Hand und gab es auf, so zu tun, als würde ihn das Essen interessieren. »Entweder hat er jemand erpreßt, oder er hatte unvorstellbares Glück im Spiel, oder – und das halte ich für das wahrscheinlichste – er betrieb Geschäfte, von denen wir nichts wissen. Wenn diese Geschäfte legal gewesen wären, hätten wir Unterlagen darüber finden oder auf seine Partner stoßen müssen. Und wenn er sich etwas geliehen hätte, hätten die Gläubiger ihre Ansprüche in Shelburne Hall geltend gemacht.«
»Es sei denn, sie waren Kredithaie«, sagte Monk mechanisch. Sein Geist war vor Angst wie erstarrt, während er zusah, wie Evan der Wahrheit näher und näher kam. Seine feingliedrigen, sensiblen Hände konnten ihn jeden Moment zu fassen bekommen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß die sich jemand wie Grey ausgesucht hätten«, wandte Evan mit leuchtenden Augen ein.
»Kredithaie sind unglaublich vorsichtig, was ihre Investitionen betrifft, das hab ich inzwischen gelernt. Die geben keinen zweiten Kredit, bevor der erste nicht bezahlt ist, samt Zins und Zinseszins oder wenigstens einem Pfandrecht auf das persönliche Eigentum.« Eine schwere Haarlocke fiel ihm in die Stirn und wurde nicht weiter beachtet. »Was uns wieder auf dieselbe Frage zurückwirft: Wie hat Grey die Rückzahlung und die Zinsen finanziert? Er war der drittgeborene Sohn und besaß kein eigenes Vermögen. Nein Sir, er hat irgendwelche Geschäfte gemacht, da bin ich sicher. Und ich hab auch schon eine Idee, wie ich das herauskriege.«
Mit jeder Idee kam er dem verhängnisvollen Finale näher. Monk sagte nichts. Seine Gedanken überschlugen sich mit aberwitziger Geschwindigkeit. Er müßte sich etwas einfallen lassen, womit er Evan von seiner heißen Spur ablenken konnte. Es war zwar nicht ewig hinauszuschieben, aber zuerst wollte er selbst Klarheit haben, und die lag zum Greifen nah.
»Sehen Sie das anders, Sir?« Evan war sichtlich enttäuscht; er machte ein geradezu deprimiertes Gesicht. Oder war er deprimiert, weil Monk ihn die ganze Zeit belog?
Monk riß sich zusammen und verdrängte den Schmerz. Er mußte unbedingt einen klaren Kopf behalten, nur noch für kurze Zeit.
»Nein, vielleicht liegen Sie gar nicht so falsch. Dawlish erwähnte ein Geschäftsunternehmen. Ich weiß nicht mehr, wieviel ich Ihnen davon erzählt habe. Meines Wissens ist das Projekt noch nicht angelaufen, aber es kann gut sein, daß es schon Teilhaber gab.« Wie er es haßte zu lügen! Besonders, was Evan betraf – dieser Verrat war der schlimmste. Der Gedanke, was Evan empfinden mochte, wenn er die Wahrheit erfuhr, war unerträglich. »Wir sollten der Sache nachgehen.«
Evans Gesicht hellte sich wieder auf.
»Sehr gut. Sie wissen, daß wir den Mörder meiner Meinung nach schnappen können. Ich glaube, wir sind ganz nah dran. Es müssen nur noch ein oder zwei Lücken geschlossen werden, dann paßt alles zusammen.«
War ihm eigentlich klar, wie scheußlich nah dran er war?
»Schon möglich«, stimmte Monk zögernd zu. Er starrte auf seinen Teller. »Trotzdem müssen Sie dezent vorgehen. Dawlish genießt enormes Ansehen.«
»Sicher, Sir, da brauchen Sie keine Angst zu haben. Ihn hab ich nicht in Verdacht. Was ist mit diesem Brief von Charles Latterly? Der war ganz schön eisig, fand ich. Ich hab übrigens eine Menge über Latterly rausgefunden.« Er führte sich nun doch noch eine Gabelladung seines Eintopfs zu Gemüte.
»Wußten Sie, daß sich sein Vater wenige Wochen vor Greys
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