Das Gesicht des Fremden
anderer Leute.« Er senkte die Stimme, wodurch sie einen deutlich drohenden Beiklang erhielt. Marners Gesicht wurde hart. »Und Sie, als gesetzestreuer Mensch, sind sicher froh, mir in jeder Hinsicht helfen zu können. Ich würde gern die Unterlagen über das fragliche Projekt sehen. Wieviel hat Major Grey verloren, Mr. Marner – bis auf die Guinee, bitte?«
Marners Kinn fuhr ruckartig hoch. Er funkelte Monk beleidigt an.
»Polizei? Sagten Sie nicht, Sie wollten Geld anlegen?«
»Nein, das sagte ich nicht. Es war eine Mutmaßung Ihrerseits. Wieviel hat Major Grey verloren, Mr. Marner?«
»Nun ja, auf die Guinee genau, Mr. Monk – überhaupt nichts.«
»Ich denke, die Gesellschaft wurde aufgelöst.«
»Ja, das stimmt auch; eine dumme Sache war das damals. Aber Major Grey zog sein eigenes Kapital im letzten Moment zurück, direkt vor der… der Übernahme.«
Monk dachte an den Kollegen, der ihm Marners Adresse gegeben hatte. Wenn der Mann tatsächlich seit Jahren hinter Marner her war, wurde es allmählich Zeit, daß er ihn erwischte.
»Sieh an.« Er lehnte sich zurück. Sein Verhalten änderte sich schlagartig. »Dann war er von dem Verlust gar nicht betroffen?« erkundigte er sich beinah liebenswürdig.
»Nein, nicht im geringsten.« Monk stand auf.
»In dem Fall ist es für den Mord unerheblich. Es tut mir leid, daß ich Ihre Zeit verschwendet habe, Mr. Marner. Vielen Dank für die Zusammenarbeit. Bestimmt besitzen Sie Unterlagen, die Ihre Worte belegen? Nur für den Bericht, versteht sich.«
»Ja, natürlich.« Marner entspannte sich merklich. »Wenn Sie einen Moment warten würden –« Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, ging zu einem großen Büroschrank voller Aktenordner, zog eine Schublade heraus und entnahm ihr ein schmales Notizbuch, das wie die Miniaturausgabe eines Hauptbuchs aussah. Er legte es aufgeschlagen vor Monk hin.
Monk nahm es in die Hand, begutachtete es kurz, las die Eintragung über die Rücknahme von Greys Kapital und klappte es zu.
»Danke sehr.« Er schob das Büchlein in die Innentasche seines Mantels.
Marners Hand schoß vor, um anzudeuten, daß er das gute Stück zurückhaben wollte. Als ihm klar wurde, daß er es nicht bekommen würde, rang er mit sich, ob er auf die Rückgabe bestehen sollte, entschied dann aber, daß er dadurch mehr Aufmerksamkeit auf das Buch lenken würde, als ihm lieb war. Er zwang sich zu einem Lächeln, was seinem aufgedunsenen, weißen Gesicht ein unvorteilhaftes Aussehen verlieh.
»Immer gern zu Diensten, Sir. Wo würden wir hinkommen ohne Polizei? Heutzutage gibt es soviel Kriminalität, soviel Gewalt.«
»Ein wahres Wort«, bestätigte Monk. »Und soviel Betrug, der Gewalt erzeugt. Guten Tag, Mr. Marner.«
Während er mit raschen Schritten die Gun Lane in Richtung West India Dock Road zurückging, dachte Monk angestrengt nach. Falls das Beweisstück echt war und Zebedee Marner nicht daran herumgepfuscht hatte, mußte der mehr oder minder redliche Joscelin Grey rechtzeitig gewarnt worden sein, um mit heiler Haut davonzukommen und es Latterly samt Freunden zu überlassen, das Fiasko auszubaden. Nicht gerade redlich, aber auch nicht direkt illegal. Es wäre interessant zu wissen, wer die Aktionäre der Gesellschaft waren, die den Tabakimport gekauft hatte, und ob Grey sich womöglich darunter befand.
War er vor dem Unfall auch so weit gekommen? Marner kannte ihn nicht. Er hatte sich benommen, als höre er das alles zum erstenmal. Wahrscheinlich entsprach es der Wahrheit, denn andernfalls hätte Monk ihm unmöglich vormachen können, er wäre ein Investor.
Selbst wenn Zebedee Marner ihn vorher noch nie gesehen hatte, konnte er vor Greys Tod soviel herausbekommen haben, weil er zu der Zeit noch über sein Gedächtnis und genügend Informanten verfügt hatte und genau wußte, wen er fragen, wen schmieren, wem er drohen konnte – und womit.
Er erwischte in der West India Dock Road einen Hansom, machte es sich für die lange Fahrt bequem und dachte weiter nach.
Auf dem Revier begab er sich schnurstracks zu dem Mann, der ihm Marners Adresse gegeben hatte. Er erzählte ihm von dem Besuch, gab ihm das Notizbuch und zeigte ihm, womit Marner seiner Meinung nach als Betrüger entlarvt werden konnte. Der Kollege schäumte förmlich über vor Entzücken und freudiger Erwartung; er wirkte wie jemand, der einem Festschmaus entgegenfiebert. Monk empfand ein flüchtiges, heftiges Aufwallen von Zufriedenheit.
Das Gefühl hielt nicht lange an.
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