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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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betreiben zu können. Hesters Taktgefühl wurde bei dieser Gelegenheit unversehens auf eine harte Probe gestellt. Ursula war ein hübsches Mädchen mit einer blonden Mähne, die einen leichten Stich ins Rötliche hatte. Ihre Haut schimmerte rosig, als würde sie viel Zeit im Freien verbringen – und tatsächlich stellte sich bald ihre Begeisterung für die Fuchsjagd heraus. Ursula war in leuchtendes Blau gekleidet, das Hesters Ansicht nach zu kräftig für sie war; eine gedämpfte Farbe hätte ihr mehr geschmeichelt und ihre natürliche Vitalität besser zur Geltung kommen lassen. So wirkte sie wie ein greller Farbklecks zwischen Fabias lavendelfarbener Seide, Rosamonds mattem, düsteren Dunkelblau und Hesters tiefem Traubenrot, das zwar intensiv war, ihrer Trauerzeit jedoch nicht widersprach. Sie fand insgeheim, daß ihr noch nie eine Farbe besser gestanden hatte!
    Callandra trug ein schwarzes Kleid mit hier und da einem Fleckchen Weiß, das nicht ganz der aktuellen Mode entsprach. Doch was immer Callandra anzog, sie wirkte würdevoll, niemals extravagant; es lag ihr nicht, optisch viel herzumachen.
    General Wadham war groß und kräftig, hatte borstige Koteletten und blaßblaue Augen, von denen Hester nicht genau sagen konnte, ob sie nun weit oder kurzsichtig waren; nur eins war sicher: Als er sie ansprach, schien sich sein Blick nicht richtig auf sie zu konzentrieren.
    »Zu Besuch, Miss – äh, Miss –?«
    »Latterly.«
    »Ja, natürlich – Latterly.« Er erinnerte Hester auf groteske Art an Dutzende in die Tage gekommene Soldaten, über die sie und Fanny Bolsover sich lustig gemacht hatten, wenn sie die ganze Nacht über müde bei den Verwundeten gesessen, sich dann auf dem einzigen Strohlager auf der Suche nach Wärme aneinandergekuschelt und sich alberne Geschichten ins Ohr geflüstert hatten. Lachen war besser gewesen als Weinen, und bei dem, was sie tagtäglich aushalten mußten, hatten sie weder den Nerv noch die Energie gehabt, sich zusammenzureißen.
    »Eine Freundin von Lady Shelburne, was?« sagte General Wadham mechanisch. »Charmant, charmant.«
    Hester spürte bereits, wie sich Ärger in ihr breitmachte.
    »Nein. Eine Freundin von Lady Callandra Daviot. Ich hatte das große Glück, sie vor einiger Zeit kennenzulernen.«
    »Äh ja.« Er wußte dem nichts hinzuzufügen und widmete sich Rosamond, die sich auf jedes Thema einließ, das ihm in den Sinn kam.
    Als sie zum Dinner gerufen wurden, fand sich keine männliche Begleitung für Hester, folglich blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Callandra ins Eßzimmer zu gehen. An der Tafel saß sie schließlich General Wadham gegenüber.
    Nachdem der erste Gang serviert worden war, begann man zu speisen, die Damen grazil, die Männer mit gesundem Appetit. Die Unterhaltung verlief zunächst recht spärlich, doch als der gröbste Hunger gestillt und Suppe und Fisch vertilgt waren, fing Ursula ein Gespräch über die Jagd sowie die Vorzüge und Nachteile diverser Pferderassen an.
    Hester hielt sich raus. Außer auf der Krim war sie nie geritten, und der Anblick der verwundeten, verhungernden und an Seuchen dahinsiechenden Tiere war so furchtbar gewesen, daß sie ihn nach Kräften verdrängt hatte. Sie verschloß ihre Ohren derart effektiv vor dem Gerede, daß Lady Fabia sie dreimal ansprechen mußte, ehe sie es merkte.
    »Verzeihen Sie bitte!« entschuldigte sie sich verlegen.
    »Sagten Sie nicht, Sie wären meinem verstorbenen Sohn, Major Joscelin Grey, flüchtig begegnet, Miss Latterly?«
    »Ja. Bedauerlicherweise sehr flüchtig – es gab so viele Verwundete.« Ihr Ton war absolut höflich, als ginge es um einen Gebrauchsgegenstand, doch ihre Gedanken schweiften zu der bitteren Krankenhausrealität zurück, zu den verwundeten, halb erfrorenen und verhungerten, cholera und ruhrkranken Menschen, die bereits so dicht beieinander lagen, daß kein Platz für weitere war. Nur die Ratten fanden immer ein freies Fleckchen.
    Eine noch schlimmere Erinnerung waren die Erdschanzen während der Belagerung von Sewastopol, die eisige Kälte, die Lichtkreise der Lampen auf dem allgegenwärtigen Schlamm, sie, die am ganzen Leib zitternd einen Menschen festhielt, damit der Chirurg seine Arbeit tun konnte, den Blick fest auf das schummrig beleuchtete Sägeblatt gerichtet. Sie dachte an das erste Mal, als sie die Ehrfurcht einflößende Gestalt von Rebecca Box gesehen hatte, wie sie weit über die Schützengräben hinaus aufs Schlachtfeld schritt, in ein Gebiet, das

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