Das Gesicht des Fremden
stöhnte.
Hester drohte in hysterisches Gelächter auszubrechen und preßte sich rasch die Serviette gegen den Mund, um es zu verhindern.
General Wadham brachte einen verblüffend würdevollen Rückzug zustande, indem er die Bemerkung als Kompliment nahm.
»Ich danke Ihnen, Madame. Vielleicht hätte ich das Abschlachten der ›Light‹-Brigade tatsächlich verhindern können.«
Damit war das Thema erledigt. Fabia rappelte sich mit etwas Hilfe von Lovel hoch und entschuldigte die Damen, die sich daraufhin in den Salon begaben, um über Musik, Mode, den Adel, ins Haus stehende Hochzeiten zu sprechen und ausnehmend reizend zueinander zu sein.
Nachdem sich der Besuch verabschiedet hatte, hielt Fabia die Zeit für gekommen, ihre Schwägerin ins Gebet zu nehmen. Sie fixierte Callandra mit einem Blick, unter dem diese eigentlich hätte schrumpfen müssen.
»Das werde ich dir nie verzeihen, Callandra!«
»Wie du mir auch nie verziehen hast, daß mein Kleid bei unsrer ersten Begegnung vor über vierzig Jahren die gleiche Farbe hatte wie deins. Ich werde es mit derselben Fassung tragen wie alle derartigen Episoden.«
»Du bist unausstehlich. Mein Gott, wie ich Joscelin vermisse!« Fabia erhob sich langsam, woraufhin Hester aus Anstandsgründen ebenfalls aufstand, und ging zur Tür. »Ich lege mich jetzt hin. Wir sehen uns morgen.« Damit verließ sie den Raum.
»Manchmal bist du wirklich unausstehlich, Tante Callandra«, bestätigte Rosamond, die mit verwirrtem und unglücklichem Gesicht mitten im Zimmer stand. »Ich verstehe nicht, warum du solche Sachen sagst.«
»Ich weiß«, entgegnete Callandra sanft. »Das liegt daran, daß du dich dein Leben lang nur in den besten Kreisen von Middleton, Shelburne und London bewegt hast. Wenn Hester hier nicht Gast wäre, würde sie das gleiche sagen – vielleicht sogar noch mehr. Unser militärischer Einfallsreichtum ist seit Waterloo in Konventionen erstarrt.« Sie stand auf und strich ihre Röcke glatt.
»Joscelin ist tot«, sagte Rosamond verdrossen, den Blick auf die zugezogenen Vorhänge geheftet.
»Ich weiß, meine Liebe. Aber er starb nicht auf der Krim.«
»Aber vielleicht war der Krieg dran schuld!«
»Ja, das könnte durchaus sein«, räumte Callandra ein; ihr Gesicht wurde plötzlich weich. »Ich weiß, daß du ihn sehr, sehr gern hattest. Er konnte Freude verbreiten und empfinden, wozu weder Lovel noch Menard in der Lage zu sein scheinen. Aber ich denke, das Thema ist mittlerweile ebenso erschöpft wie wir. Gute Nacht, Rosamond. Wein dich aus, wenn dir danach ist; es schadet nur, wenn man die Tränen zu lange zurückhält. Haltung ist gut und schön, es kommt aber auch manchmal der Punkt, da muß man seinem Schmerz freien Lauf lassen.« Sie legte ihren Arm um die schmalen Schultern und drückte Rosamond kurz an sich. Dann nahm sie Hester am Ellbogen und führte sie aus dem Raum, damit Rosamond allein war.
Hester verschlief am kommenden Morgen. Als sie schließlich aufwachte, tat ihr der Kopf weh. Sie hatte keinen Appetit und noch weniger Lust, irgendeinem Familienmitglied am Frühstückstisch gegenüberzusitzen. Sie hatte sich beim Dinner schlecht benommen, und der Gedanke daran ließ sie nicht los, wie sehr sie sich auch bemühte, den Zwischenfall so zu sehen, daß sie keine Schuld traf. Das Grübeln machte die Kopfschmerzen und die innere Unruhe nur noch schlimmer.
Sie nahm sich vor, so lange durch den Park zu laufen, bis ihre Energien erschöpft waren, zog sich entsprechend warm an und marschierte um neun Uhr in flottem Tempo durch das nasse Gras.
Ihre erste Reaktion beim Anblick der männlichen Gestalt war Ärger, denn sie wollte allein sein. Vermutlich war er vollkommen harmlos und hatte genausoviel Recht, sich hier aufzuhalten, wie sie – vielleicht sogar mehr? Zweifellos erfüllte er irgendeine Funktion. Dennoch störte er sie, war er ein anderes menschliches Wesen in dieser Welt aus Wind und Bäumen, einem grenzenlosen Himmel voll ziehender Wolkenmassen und zitterndem, singendem Gras.
Auf ihrer Höhe blieb er stehen und sprach sie an. Er war dunkelhaarig, hatte ein arrogantes, hageres Gesicht und sehr klare Augen.
»Guten Morgen, Ma’am. Sie kommen von Shelburne Hall –«
»Scharf beobachtet«, unterbrach Hester ihn schroff, während sie einen vielsagenden Blick auf den absolut leeren Park warf. Es gab keinen Ort, wo sie sonst hätte hergekommen sein können, es sei denn aus einem Loch im Boden.
Sein Gesicht wurde hart; ihr Spott hatte sein
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