Das Gesicht des Fremden
Sie hatte alles Menschenmögliche getan, bis sie vor Erschöpfung vollkommen gefühllos und von dem Geschrei und dem Elend um sie herum wie betäubt war. Die Verwundeten wurden zuhauf auf Karren verfrachtet und ins Feldlazarett geschafft, wo man sich Tag und Nacht um sie kümmerte. Die Sanitäter versuchten nach Kräften, die Blutungen zu stillen, aber gegen Schock und Schmerzen gab es nichts als ein paar kostbare Tropfen Brandy. Was hätte sie damals für den Inhalt von Shelburnes Kellergewölben gegeben!
Sie wurde sich wieder der höflichen und außerordentlich dummen Konversation bewußt, die munter um sie herumsummte.
»Ein prachtvoller Mann«, meinte Lord Wadham gerade, während er in sein Rotweinglas stierte. »Einer der größten Helden Englands. Lucan und Cardigan sind miteinander verwandt, aber das wissen Sie vermutlich. Lucan hat eine von Lord Cardigans Schwestern geheiratet – was für eine Familie!«
Er schüttelte verwundert den Kopf. »Was für eine Bestimmung!«
»Ja, das beflügelt uns alle«, pflichtete Ursula ihm mit leuchtenden Augen bei.
»Es war Haß auf den ersten Blick«, entfuhr es Hester, ehe sie ihre Zunge im Zaum halten konnte.
»Wie bitte?!« Der General sah sie kalt an, die buschigen Brauen leicht gewölbt. In seinem Blick lag die ganze Fassungslosigkeit ob einer solchen Frechheit, all seine Verachtung für Frauen, die redeten, obwohl sie niemand dazu aufgefordert hatte. Er war genau der Typ blinder, arroganter Dummkopf, der zu den unermeßlichen Verlusten auf dem Schlachtfeld beigetragen hatte, indem er vor wichtigen Informationen die Ohren verschloß und die Wahrheit nicht akzeptieren wollte.
»Ich sagte, Lord Lucan und Lord Cardigan konnten sich von Anfang an nicht ausstehen.« Ihre Worte fielen klar und deutlich wie Wassertropfen in die unheilvolle Stille.
»Sie sind wohl kaum in der Lage, das zu beurteilen, Madame.« Wadham musterte sie mit unverhohlener Geringschätzung. Sie war weniger als eine Subalterne, weniger als eine Privatperson – um Himmels willen: Sie war eine Frau! Und sie hatte ihm bei Tisch widersprochen, zumindest andeutungsweise.
»Ich war bei der Schlacht an der Alma dabei, in Inkerman und Balaklawa und bei der Belagerung von Sewastopol, Sir.« Hester sah ihn unverwandt an. »Und Sie?«
Sein Gesicht lief dunkelrot an. »Meine Erziehung und die Rücksichtnahme auf unsere Gastgeber verbieten mir, Ihnen die Antwort zu geben, die Sie verdienen, Madame«, sagte er steif.
»Da wir nun mit dem Dinner fertig sind, möchten sich die Damen vielleicht in den Salon zurückziehen?«
Rosamond machte gehorsam Anstalten aufzustehen, Ursula legte ihre Serviette neben den Teller, obwohl noch ein halber Pfirsich darauf lag.
Fabia blieb wie angewurzelt sitzen; auf ihren Wangen prangten zwei hellrote Flecken. Callandra griff betont vorsichtig und bedächtig nach einem Pfirsich und rückte ihm mit Messer und Gabel zu Leibe; ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
Niemand rührte sich von der Stelle. Die Stille wurde beinahe greifbar.
»Ich glaube, wir bekommen einen harten Winter«, sagte Lovel schließlich. »Der alte Beckinsale rechnet damit, daß er die halbe Ernte verliert.«
»Das sagt er doch jedes Jahr«, brummte Menard und stürzte in einem Zug den Rest seines Weines hinunter.
»Viele Leute sagen jedes Jahr dasselbe.« Callandra entfernte sorgfältig eine matschige Stelle aus ihrem Pfirsich und schob sie an den Tellerrand. »Unser Sieg über Napoleon bei Waterloo ist jetzt vierzig Jahre her, und die meisten glauben immer noch, unser Heer wäre genauso unschlagbar wie damals. Wir erwarten, mit den gleichen Taktiken zu siegen, mit der gleichen Disziplin und Kühnheit, die in jenen Tagen halb Europa in die Knie gezwungen und den Untergang eines Imperiums bedeutet hat.«
»Und – bei Gott, Madame – das werden wir!« Der General ließ seine Faust derart heftig auf den Tisch sausen, daß das Besteck hochhüpfte. »Der britische Soldat ist allen Menschen ein Vorbild!«
»Zweifellos«, bestätigte Callandra. »Es ist der britische General auf dem Schlachtfeld, der sich wie ein bornierter, unfähiger Esel benimmt.«
»Um Gottes willen, Callandra!« Fabia war außer sich. Menard schlug die Hände vors Gesicht.
»Vielleicht hätten wir uns nicht so dumm angestellt, wenn Sie dagewesen wären, General Wadham. Wenigstens verfügen Sie über beträchtliche Vorstellungskraft!«
Rosamond schloß die Augen und sackte auf ihrem Stuhl in sich zusammen. Lovel
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