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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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unlängst von russischen Truppen besetzt worden war, sich die Leichen der Gefallenen über die Schulter warf und ins Lager zurückschleppte. Ihre unbeschreibliche Kraft wurde lediglich von ihrem Mut übertroffen. Kein Mann fiel weit genug draußen von einer Kugel getroffen um, daß sie nicht zu ihm gegangen wäre, um ihn in die provisorische Krankenbaracke oder eins der Lazarettzelte zu bringen.
    Die andern starrten Hester an. Man erwartete anscheinend, daß sie weitersprach, daß sie irgendein rühmliches Wort über Joscelin äußerte. Schließlich war er Soldat gewesen – Major bei der Kavallerie.
    »Soweit ich mich erinnere, war er sehr liebenswürdig.« Sie weigerte sich zu lügen, und wenn es hundertmal seine Familie war. »Und er hatte ein wunderbares Lächeln.«
    Fabia entspannte sich und lehnte sich zurück. »Ja, so war Joscelin.« Die blauen Augen verschleierten sich. »Tapfer und fröhlich, selbst unter den furchtbarsten Begleitumständen. Ich kann immer noch nicht recht glauben, daß er von uns gegangen ist – ein Teil von mir erwartet, daß er die Tür aufreißt und hereinspaziert kommt, während er sich für sein Zuspätkommen entschuldigt und verkündet, wie hungrig er ist.«
    Hester betrachtete den Tisch, auf dem sich Lebensmittel türmten, die für ein halbes Regiment gereicht hätten. Wie leichtfertig diese Leute doch mit dem Wort Hunger umgingen.
    General Wadham lehnte sich ebenfalls zurück und betupfte sich mit seiner Serviette die Lippen.
    »Ein prachtvoller Bursche«, sagte er gemessen. »Sie müssen sehr stolz auf ihn gewesen sein, meine Liebe. Das Leben eines Soldaten währt leider nur allzuoft nicht lange, aber er geht in Ehren und wird niemals vergessen.«
    Das einzige Geräusch in der darauf folgenden Stille war das Klappern des Silberbestecks auf Porzellan. Niemand wußte etwas zu sagen. In Fabias Gesicht spiegelte sich tiefes, hoffnungsloses Leid, eine fast vernichtende Einsamkeit. Rosamond starrte ins Leere, und auch Lovel machte einen deprimierten Eindruck, ob wegen ihres oder seines eigenen Kummers, war schwer zu sagen. Hester fragte sich, was ihm mehr zusetzte – seine Erinnerungen oder die Gegenwart?
    Menard kaute auf seinem Bissen herum, als wäre seine Kehle zu eng und sein Mund zu trocken, um ihn hinunterzuschlucken.
    »Ein glorreicher Feldzug«, sagte der General in das Schweigen hinein. »Wird in die Geschichtsbücher eingehen – ist an Mut und Tapferkeit durch nichts zu übertreffen. Rote Gefechtslinie und so weiter!«
    Hester spürte unvermittelt, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, wie sie von grenzenloser Wut und unerträglicher Enttäuschung gepackt wurde. Sie sah das Gebirge jenseits der Alma deutlicher vor sich als die Gesichter am Tisch. Sie sah die Brustwehre auf der vorderen Hügelkette, die an jenem verhängnisvollen Morgen von den Gewehren der feindlichen Truppen strotzten, die Redouten, die mit Steinen gefüllten Flechtwerkbarrikaden. Dahinter lagen die fünfzigtausend Mann von Fürst Menschikow. Die Luft roch nach Meer. Gemeinsam mit den anderen Frauen, die sich der Armee angeschlossen hatten, stand sie da und beobachtete Lord Raglan, wie er in Gehrock und blütenweißem Hemd mit kerzengeradem Rücken im Sattel saß.
    Um ein Uhr mittags wurde zum Angriff geblasen; die Infanteristen rückten Schulter an Schulter vor und wurden niedergemäht wie Grashalme. Neunzig Minuten dauerte das Massaker, dann wurde der Befehl gegeben, der die Husaren, Ulanen und Füsiliere in peinlich genauer Marschfolge einmarschieren ließ.
    »Sehen Sie sich das gut an«, sagte ein Major zu einer der Frauen. »Die Königin von England würde ihre Augen hergeben, um dabeisein zu können.«
    Die Männer starben wie die Fliegen. Die emporgereckten Flaggen waren durch den Beschuß völlig zerfetzt. Stürzte ein Träger zu Boden, nahm der Mann hinter ihm seinen Platz ein, bis er ebenfalls getroffen und seinerseits ersetzt wurde. Die Befehle waren widersprüchlich, so daß die Soldaten wild durcheinanderrannten. Zum Schluß rückten die Grenadiere vor, eine wandelnde Mauer aus Bärenfellmützen, und schließlich des 42. Hochländerregiment.
    Die Dragoner wurden zurückgehalten, warum wußte niemand. Als man ihn fragte, erwiderte Lord Raglan, er sei mit seinen Gedanken bei Agnes gewesen!
    Hester erinnerte sich, wie sie später über das Schlachtfeld gelaufen war, über blutdurchtränkten Boden und an Leichen vorbei, die teilweise so zerfetzt waren, daß ihre Glieder meterweit weg lagen.

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