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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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kontern, sah dann aber den tiefen Schmerz im Gesicht seiner Mutter und verbiß sich die Bemerkung. Statt dessen sagte er sanft: »Ein paar seiner Spielschulden haben mich in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, das ist alles.«
    Hester warf einen flüchtigen Blick auf Callandra. In deren ausdrucksvollen Zügen spiegelte sich eine Mischung aus Ärger, Mitleid und Hochachtung, wenn Hester auch nicht wußte, wem welche Gefühle galten. Die Hochachtung ordnete sie spontan Menard zu.
    Lovel lächelte freudlos. »Ich fürchte, Sie werden feststellen, daß die Polizei uns nach wie vor belästigt, Miss Latterly. Sie haben einen ungehobelten Burschen hergeschickt, einen Emporkömmling – obwohl er vermutlich bessere Umgangsformen hat als die meisten Polizisten. Jedenfalls scheint er nicht im mindesten zu wissen, was er tut, und stellt eine Menge unverschämte Fragen. Falls Sie ihm während Ihres Aufenthaltes hier begegnen sollten und er Ihnen auch nur die geringsten Unannehmlichkeiten bereitet, sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren, und lassen Sie es mich wissen.«
    »Das werde ich, keine Sorge«, versicherte Hester entschieden.
    »Das alles muß Sie sehr belasten.«
    »In der Tat«, bestätigte Fabia. »Aber wir werden diese Belastung notgedrungen aushalten müssen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der arme Joscelin von einem Menschen umgebracht wurde, den er kannte.«
    Hester fiel keine Entgegnung darauf ein.
    »Vielen Dank für den Hinweis«, sagte sie zu Lovel, senkte den Blick und widmete sich wieder dem Essen.
    Nachdem auch die Früchte verspeist waren, zogen sich die Frauen zurück, während Lovel und Menard ein halbes Stündchen bei einem Glas Portwein zubrachten. Anschließend schlüpfte Lovel in seine Hausjacke und machte es sich im Herrenzimmer gemütlich, Menard begab sich in die Bibliothek. Gegen zehn verschwanden alle unter irgendeinem Vorwand, weshalb der Tag für sie lang und anstrengend gewesen wäre, auf ihren Zimmern und legten sich schlafen.
    Das Frühstück erwies sich wie erwartet als überaus reichlich: Porridge, Speck, Eier, gefüllte Nierchen, Koteletts, Reis mit Fisch und harten Eiern, geräucherter Schellfisch, Toast, Butter, eingemachtes Obst, Aprikosenkompott, Marmelade, Honig, Tee und Kaffee. Hester hielt sich zurück; bei der bloßen Vorstellung, von all dem etwas in sich hineinzustopfen, hatte sie das Gefühl zu platzen. Sowohl Rosamond als auch Fabia frühstückten auf ihren Zimmern, Menard hatte bereits gegessen und das Haus verlassen. Callandra war noch nicht aufgestanden. Lovel war ihre einzige Tischgesellschaft.
    »Guten Morgen, Miss Latterly. Haben Sie gut geschlafen?«
    »Ausgezeichnet, danke, Lord Shelburne.« Sie bediente sich an den warmgehaltenen Speisen, die auf der Anrichte standen, und setzte sich. »Sie ebenfalls, hoffe ich.«
    »Wie bitte? Ach so – ja, danke. Ich schlafe immer gut.« Er fuhr fort, den Essensberg auf seinem Teller nach und nach abzubauen, und es dauerte einige Minuten, bis er wieder aufblickte. »Was ich noch sagen wollte – Sie nehmen es Menard hoffentlich nicht übel, daß er gestern beim Abendessen etwas aus der Rolle gefallen ist. Jeder von uns trauert auf seine Weise. Menard hat noch jemand durch den Krieg verloren, seinen besten Freund. Er war mit ihm zusammen auf der Schule und in Cambridge. Hat ihn unglaublich hart getroffen. Im Grunde mochte er Joscelin sehr gern, nur hatte er als älterer Bruder die – die…« Lovel gab sich alle Mühe, die richtigen Worte zu finden, und scheiterte kläglich. »Er – äh, er hatte –«
    »Eine gewisse Verantwortung für ihn?« schlug Hester vor. Sein Gesicht leuchtete dankbar auf. »Genau. Offen gesagt spielte Joscelin gelegentlich ausgiebiger, als ihm guttat, und dann war Menard zur Stelle, um – äh…«
    »Ich verstehe«, sagte sie, mehr um ihn aus seiner Verlegenheit zu befreien und der peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen, als aus Überzeugung.
    Als sie später neben Callandra im Schatten der Bäume durch den klaren, stürmischen Morgen schritt, wurde sie um einiges schlauer.
    »Alles Märchen!« verkündete Callandra scharf. »Joscelin war ein Betrüger. Schon immer, sogar als er noch in den Kinderschuhen steckte. Es würde mich nicht wundern, wenn er diese Eigenart nie abgelegt hätte und Menard immer hinter ihm aufräumen mußte, um einen Skandal zu vermeiden. Unglaublich empfindlich, was den guten Ruf der Familie angeht, dieser Menard.«
    »Lord Shelburne etwa nicht?« fragte Hester

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