Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
erstaunt.
    »Ich bezweifle, daß Lovel genug Phantasie besitzt, um sich einen betrügerischen Grey vorstellen zu können. So etwas übersteigt sein Begriffsvermögen. Ein Mann von Stand betrügt nicht; Joscelin war sein Bruder – aus diesem Grund zwangsläufig ebenfalls ein Mann von Stand –, also kann er nicht betrogen haben. So einfach ist das.«
    »Sie mochten Joscelin wohl nicht besonders?« Hester schaute forschend in Callandras Gesicht.
    »Nein, nicht besonders.« Callandra lächelte. »Obwohl ich zugeben muß, daß er bisweilen unwahrscheinlich witzig war, und wir vergeben bekanntlich Leuten, die uns zum Lachen bringen, eine ganze Menge. Außerdem spielte er wundervoll Klavier, und wir sehen über vieles bei einem Menschen hinweg, der herrliche Klänge für uns produziert – vielleicht sollte ich besser sagen: reproduziert. Soviel ich weiß, hat er keine eigenen Stücke komponiert.«
    Während der nächsten hundert Meter sprach keine ein Wort. Nur das Rauschen und Rascheln des Windes in den riesigen Eichen erfüllte die Stille. Es klang wie ein tosender Wasserfall oder wie die unermüdliche Brandung an einer Felsküste. Es war eins der angenehmsten Geräusche, das Hester je gehört hatte, und die klare, süß duftende Luft hatte eine reinigende Wirkung auf ihre Seele.
    »Und, Hester?« meinte Callandra nach einer Weile. »Wie stellen Sie sich Ihre weitere Zukunft vor? Ich bin überzeugt, Sie können einen ausgezeichneten Posten finden, wenn Sie sich weiterhin für die Krankenpflege entscheiden – in einem Lazarett zum Beispiel oder auch in einem Londoner Krankenhaus, das sich überreden läßt, Frauen einzustellen.« Ihrem Ton fehlte jeglicher Enthusiasmus.
    »Aber?« sagte Hester an ihrer Stelle.
    Callandras Mundwinkel verzogen sich zu einem Hauch von Lächeln. »Aber das hieße meiner Meinung nach, Perlen vor die Säue zu werfen. Sie haben großes Organisationstalent, außerdem jede Menge Kampfgeist. Sie sollten sich eine Herausforderung und eine Schlacht suchen, die Sie gewinnen wollen. Auf der Krim haben Sie viel über bessere Pflegebedingungen gelernt. Geben Sie dieses Wissen hier weiter, zwingen Sie die Leute, Ihnen zuzuhören. Helfen Sie, Kreuzinfektionen, unhygienische Verhältnisse, unfähige Schwestern und unzulängliche Behandlungsmethoden zu beseitigen, die jeder guten Haushälterin ein Greuel sein würden. Sie würden mehr Leben retten und wären eine glücklichere Frau.«
    Hester wagte nicht, die Kriegsberichte zu erwähnen, die sie in Alan Russells Namen geschrieben hatte, außerdem war an Callandras Worten etwas Wahres. Sie erfüllten sie mit ungewohnter Wärme und riefen ein befreites Gefühl in ihrem Innern hervor, als hätte sich ein dissonanter in einen harmonischen Klang aufgelöst.
    »Und wie soll ich das anstellen?« Das Artikelschreiben konnte warten. Je mehr sie wußte, desto eher war sie in der Lage, ihre Ziele mit Nachdruck zu verfolgen. Miss Nightingale würde ihren Feldzug mit einem Fanatismus fortsetzen, der an die Grenzen ihrer nervlichen und körperlichen Kraft ging. Aber allein würde sie nicht viel erreichen, mochten ihr Heimatland und ihre mächtigen Freunde sie noch so sehr mit Lobhudeleien überschütten. Zu viele Menschen würden sich ändern und damit zugeben müssen, daß sie schlecht beraten, unklug, ja unfähig gewesen waren.
    »Wie komme ich an eine solche Stelle?«
    »Oh, ich habe Freunde«, erwiderte Callandra mit ruhiger Zuversicht. »Ich werde ein paar Briefe schreiben – äußerst diskret, versteht sich –, die Leute um einen Gefallen bitten, an ihr Pflichtgefühl appellieren, ihnen ins Gewissen reden… und wenn das alles nicht hilft, werde ich damit drohen, ihnen einen schrecklichen Skandal zu machen!« Sie machte einen leicht amüsierten Eindruck, wirkte jedoch fest entschlossen, jedes Wort in die Tat umzusetzen.
    »Ich danke Ihnen. Und ich werde mich nach Kräften bemühen, meine Fähigkeiten so einzusetzen, daß Ihre Mühe nicht umsonst gewesen ist.«
    »Davon bin ich überzeugt. Wenn ich nicht an Ihren Erfolg glauben würde, hätte ich Ihnen den Vorschlag nicht gemacht.« Mit diesen Worten fiel Callandra in Hesters Schritt ein, und sie gingen gemeinsam durch ein kleines Wäldchen, bis sie den offenen Park erreichten.
    Zwei Tage später wurde General Wadham mit seiner Tochter Ursula, die seit mehreren Monaten mit Menard Grey verlobt war, zum Dinner erwartet. Sie kamen früh genug, um vor dem Essen im Salon noch ein wenig Konversation mit der Familie

Weitere Kostenlose Bücher