Das Gesicht des Teufels
entschlossen zur Seite. Der Mann strauchelte und wurde ausgelacht.
«Und ich sage euch: Sie steht mit dem Teufel im Bund», rief er, doch niemand achtete mehr auf ihn. Stattdessen wurde Hanna von einer Schar Frauen umringt, die aufgeregt auf sie einredeten: «Kennst du den Aufreiter etwa? Er hat sich so seltsam benommen. Bitte, erzähl doch etwas.»
Hanna schlug sich die Hände vors Gesicht. «Ich kann nicht mehr», flüsterte sie. «Wenn ich etwas gesehen habe, bin ich innerlich wie ausgeblutet. Dann ist nur Leere in mir.»
«Ja schon, aber hast du denn überhaupt noch andere Gesichte gehabt?», drängelte Hans Goltz’ Frau.
Hanna nickte.
«Hört ihr, sie hat uns was zu sagen», rief eine der Frauen. «Seid still!»
Hanna hatte begriffen, dass sie nicht länger schweigen konnte und durfte. Gib ihnen etwas, dachte sie. Erfinde etwas. Sonst reißen sie dir noch die Kleider vom Leib. Sie schaute über die Menge hinweg, ließ ihren Blick über die verschneiten Dächer wandern und tat, als müsse sie ihre Erinnerungen erst ordnen. In Wahrheit suchte sie fieberhaft nach Worten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und als sie in die vor Neugier berstenden Gesichter blickte, glaubte sie, keinen Ton über die Lippen bringen zu können.
Plötzlich aber hatte sie eine Eingebung. «Ich sah Männer, die in Stadt und Land ihre Frauen verlassen: Bauern, Handwerker, Bürger. Geistliche predigen Aufruhr, und die Dienerschaft der Grundherren ist grob wie eine Herde Landsknechte. Dann sah ich einen jungen Bauern in einer geflickten Jacke. Er saß mit seinen drei Kindern und seiner Frau am Frühstückstisch. Fäuste hämmern gegen den Fensterladen, und als der Bauer öffnet, schreit ihn der Diener eines gnädigen Herrn an: Was wagst du, deine Tür verschlossen zu halten? Willst du deine fünf Brote nicht zahlen? Da fällt der Bauer auf die Knie und ringt die Hände: Ich bin den Zehnten nicht schuldig, hab ihn doch längst entrichtet. Wie soll ich jetzt noch etwas geben? Das ist mir gleich, schreit der Diener und stößt ihn um. Er läuft in den Keller, wo noch vier Laibe Brot liegen, die seine Frau am Vortag gebacken hat. Wo ist der fünfte Laib?, tobt er, der Bauer aber sagt: Ich habe keinen. Aber da ist der Diener schon wieder in der Stube, greift in den Tonkrug, nimmt den angeschnittenen Laib und verschwindet.»
Hanna glühte und schlug sich die Hände vors Gesicht. Das Raunen wurde lauter, bis plötzlich eine wütende Stimme hervorplatzte und schrie: «Genau, so ist es! Müssen wir ewig Knechte bleiben? Tag für Tag bis in den Tod hinein dienen und uns von den Herren demütigen lassen? Was diese da gesehen hat: Was ist es denn als die Wahrheit, die jeder von uns kennt? Wir müssen endlich zusammenstehen! Uns nichts mehr gefallen lassen! Spieß voran, rauf und dran! Los, aufs Ziegeldach den roten Hahn! Heija oho! Denn wir sind die armen Haufen und werd’n mit Pfaff und Adel raufen.»
«Achtung, die Büttel kommen zurück!»
Die Frauen stoben auseinander. Hannas kämpferische Geschichte war wie ein Aufruf zum Umsturz. Ohne dasssie es gewollt hatte, stand sie plötzlich als Aufwieglerin da.
«Glaubt ihr denn jeden Unfug?», rief einer der Büttel. «Diese Frau macht euch doch alle närrisch! Ihre Gesichte sind nichts als Erfindungen. Sie spielt mit dem Feuer, und ihr fallt drauf rein!»
Drohend hoben die Büttel ihre Stöcke. Hanna nahm die Beine in die Hand und verschwand in die nächste Gasse. Hans Goltz’ Frau aber rannte ihr hinterher.
«Wo willst du denn hin?», rief sie atemlos.
«Zu den Dominikanerinnen. Sie unterrichten meine kleine Schwester.»
«Wie hast du das denn geschafft?»
«Das ist eine lange Geschichte.»
«Komm, erzähl sie mir.»
«Nein, nicht jetzt.»
Enttäuscht blieb Hans Goltz’ Frau stehen und sah Hanna nach. «Ich heiße Magdalena», rief sie schließlich, «und ich bin nicht so, wie du denkst.»
Eine innere Stimme sagte Hanna, dass es besser wäre, sich noch einmal umzudrehen. Ich darf mir keine Feinde machen, dachte sie. Jetzt kann ich jede Seele brauchen, die zu mir hält.
«Ja, besuch mich», rief sie. «Irgendwann. Im Kloster oder am Wachsenberg.»
TEIL 2
Rothenburg, Frühjahr 1525
24
Endlich Frühling! Die Sonne schien, die Luft war lau, die Welt wurde wieder schön. Gestern noch war es kalt, an diesem Tag aber war der Frühling über Nacht ins Land gezogen. Und das pünktlich zum einundzwanzigsten März! Im Klostergarten der Dominikanerinnen blühten Haselnuss und Jasmin, auf
Weitere Kostenlose Bücher