Das Gesicht des Teufels
der Wiese grüßten die Schneeglöckchen, und auch das Gras wurde endlich wieder grün. Es war wie ein Wunder.
«Ich hab ja auch drum gebetet. Und weil ich immer brav bin …» Marie legte die Hände zusammen und schlüpfte hinter Schwester Gisela und Rahel durch die Klosterpforte.
«Dann waren wohl alle Kinder brav, wie?», fragte Rahel.
«Jaaa!»
Marie rief so laut, dass die hagere Gisela das Gesicht verzog. Aber so ging es eben, heute blieb kein Kind ruhig. Und so quetschte Marie sich ungestüm zwischen die beiden Laienschwestern, nahm sie an die Hand und tauchte mit ihnen in den Lärm ein, der jetzt sogar die eher ruhige Klinggasse erreicht hatte. Ob Kinderrufe, Abzählreime oder Ermahnungen von Müttern, ob Geschrei oder Geplärr, weil einem Vater doch wieder die Hand ausgerutscht war: Halb Rothenburg war auf den Beinen, und alle wollten sie hinters Rödertor.
Dort lagerte seit drei Tagen eine Schaustellerkompanie, die verkündet hatte: Weil man stolz sei, für die ehrbare freie Reichsstadt Rothenburg spielen zu dürfen, gebe man an diesem Nachmittag ein Stücklein für die Kinder der Stadt.
Schon durch das Tor sah man auf die Wagenburg, innerhalb der Leinen gespannt waren, an denen bunte Wäsche- und Kostümstücke hingen.
«Das merk dir», klärte die dicke Rahel sie auf, «das fahrende Volk fährt in roten Kastenwagen übers Land. Damit man gleich erkennt, wer sie sind.»
«Und warum rot?»
«Weil rot die Farbe der Sünde ist», zischelte Gisela, «weißt du das noch nicht? Frauen, die rotweiße Kopftücher tragen, die machen mit den Männern, was sie wollen. Das sind die ganz Schlimmen.»
«Ich werd drauf achten», meinte Marie gleichmütig und machte sich los.
Sie drängte zu einer Gruppe Kinder, die einer Schauspielerin zuschauten, deren Gesicht von einem verwachsenen Mann weiß geschminkt wurde. Marie bewunderte den Kasten mit den Kämmen, dem Schmuck und den vielen verschiedenen Pinseln, und natürlich hatten es ihr vor allem die Schminkfarben angetan. Unwillkürlich zuckten ihr die Finger, und am liebsten hätte sie an jedem Töpfchen gerochen, um sich dann selbst mit den Farben anzumalen.
«Und jetzt bekommt unsere schöne schlangenhörige Eva die sündigsten Lippen der Welt», flüsterte der Verwachsene verschwörerisch, hob zwei Rötelstifte in die Höhe und schminkte die Lippen der Schauspielerin leuchtend korallenrot.
«Bist du jetzt die Eva aus der Bibel?»
Marie drehte sich zu dem Jungen um, der dies gefragt hatte. «Meinst du wegen der Lippen?»
«Nein, weil er gesagt hat, Eva sei schlangenhörig.»
«Unsinn, Eva war im Paradies nackt!», rief ein anderer Junge. «Also kann sie das hier niemals sein.»
Alle lachten, wurden aber sofort wieder still, als die Schauspielerin aufstand und den Jungen, der gefragt hatte, ob sie die Eva aus der Bibel sei, heranwinkte.
«Willst du mal aussehen wie ein alter Mann?»
«Jaa!»
«Dann setz dich.»
Erwartungsvoll schaute der Junge den grinsenden Schminkmeister an. Als Erstes malte der ihm blaugrüne Tränensäcke unter die Augen, anschließend rieb er ihm das Gesicht mit einer hautfarbenen Paste ein. Er verstrich alles mit einem rußigen Pinsel und zog anschließend mit verschiedenen Stiften feine Linien über Wangen und Kinn.
«Schaut ihn euch an! Wie alt er geworden ist, euer Freund. So geht’s. Morgens trägt man noch Windeln, am Nachmittag ist man alt, und abends kommt der Pfarrer und sagt: Friede deiner Seele.»
«Bei uns nicht», sagte Marie düster. «Nicht bei Köhlersleuten.»
Sie hatte keine Lust mehr, noch länger zuzuschauen, und ging zurück zu Gisela, die sie nicht aus den Augen gelassen hatte. «Schau mal, da richten sie die Bühne her.»
«Wo ist Rahel?»
«Ja, wo wohl?», fragte Gisela gespielt, und im selben Moment legten sich von hinten zwei Hände über Maries Augen.
Marie lachte fröhlich auf. «Rahel, das sind deine Hände!»
«Mund auf und Luft anhalten», befahl Rahel.
Marie hörte etwas rascheln, gleichzeitig zog ihr der verführerische würzig süße Duft einer gebrannten Mandelin die Nase. Sie seufzte ungeduldig und konnte es kaum erwarten, endlich zuzubeißen.
«Brich dir nicht die Zähne», ermahnte Gisela sie.
Marie schüttelte den Kopf. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Köstlichkeit, saugte und schmatzte, plötzlich aber hielt sie mit halb offenem Mund mitten in der Bewegung inne und drehte sich auf Zehenspitzen auf der Stelle. Dabei wedelte sie mit der Hand, um Gisela und Rahel zu
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