Das Gesicht des Teufels
Wahrscheinlich wird der Rat heute Büttel in Marsch setzen, um mich zu holen.
Sie zog sich ihre Winterkappe tief in die Stirn und nahm sich vor, durch das Tor zu humpeln. Ich muss listig sein, dachte sie. Ursula hat es mir vorgemacht.
Als ein Bauer sein Ochsenfuhrwerk voller Brennholz durchs Tor peitschte, humpelte sie murmelnd an dem Fuhrwerk vorbei.
«Ins Spital», jammerte sie mit verstellter Stimme. «Ich will ins Spital!»
Der Torwächter winkte sie ohne zu fragen weiter, kurz darauf hörte Hanna, wie der Bauer um die Höhe des Pflastergeldes zu feilschen begann.
Schneemauern, die von Unrat und gelben Löchern übersät waren, säumten die Rödergasse. Am Röderbrunnen hatten sich Bauern, Handwerker und eine Gruppe Marktfrauen versammelt, die einem Wanderprediger zuhörten. Hanna schnappte Worte wie Demut und Bescheidenheit auf, gleichzeitig aber wurde gefordert, dass sich der Zins nach dem Vermögen richten müsse und alle anderen Dienste auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden sollten.
Müde wurde dem Prediger applaudiert. Der ist nicht wie der blinde Hans, dachte Hanna und vergaß zu humpeln. Wenn der jetzt hier auftreten würde …
«Da läuft sie! Die Seherin!» Siedend heiß durchfuhr es Hanna. Wer rief denn so etwas? «Bleib stehen, bitte!»
Hanna zögerte einen Moment zu lange. Zwei Frauen liefen mit ausgestreckten Fingern auf sie zu, andere schauten neugierig zu ihnen herüber. Der Wanderprediger war vergessen, er brach seine Rede mitten im Satz ab.
«Ja, das ist sie! Die in St. Jacob das Blut weggewischt hat!»
Diesmal rief ein Mann, doch gleich darauf schrie ein anderer, sie sei die Hexe, die das Korn vergiftet habe. Hanna rannte los, strauchelte und wäre um ein Haar ausgerutscht. Der Schnee auf dem Pflaster war spiegelglatt, an einigen Stellen war er zu blankem Eis gefroren. Aber an Flucht war nicht mehr zu denken, denn vom Röderbogenliefen sie jetzt genauso auf sie zu wie aus der Paradiesgasse. Die einen riefen Hexe, die anderen Seherin. Panisch drehte Hanna sich einmal um sich selbst.
«Du hast doch Gesichte! Wie wird es uns ergehen? Wie wird die Zukunft?»
«Ja, geht es uns bald besser?»
«Was siehst du? Sag es uns.»
«Ihr blöden Weiber, sie ist eine Hexe!»
«Schnell, holt die Stadtbüttel!»
«Nein, sie kann hellsehen!»
Die Stimmen gingen durcheinander. Hanna wurde umringt, Hände streckten sich nach ihr aus, und die Menschen versuchten, sich gegenseitig von der Stelle zu schubsen.
«Ich weiß, dass sie Hanna heißt!»
«Hanna! Hanna! Was siehst du? Was?»
Hoffnung und Sensationslust spiegelten sich in den Gesichtern, und Hanna begriff, dass die ihr gewogenen Menschen in der Überzahl waren, trotzdem wusste sie nicht aus noch ein. Sie spürte die Sehnsucht derjenigen, die etwas Gutes von ihr hören wollten oder wenigstens etwas, das ihnen Hoffnung machte.
Ich kann ihnen doch nicht einfach etwas vorschwindeln! Was sollte ich ihnen denn erzählen!
Hanna presste sich an eine Hauswand. Über ihr flogen die Fensterläden auf, Kindergeschrei ertönte. Schützend kreuzte sie die Arme vor der Brust und zog den Kopf zwischen die Schultern, doch damit stachelte sie die Menschen nur noch mehr auf.
«Schaut doch!»
«Hanna, was siehst du? Rede endlich.»
«Lasst mich!» Ihre Stimme war so heftig, dass die Menschen erschrocken zurückwichen. «Ich kann nicht sehen … ich bin nur eine einfache Köhlerin!»
«Eine Hexe bist du!» Rücksichtslos drängte sich ein Mann nach vorne. Sein Gesicht war rot und ausgezehrt, seine Kleidung zerlumpt, die Ohrenklappen seines Huts hingen in Fetzen herab. Er stieß Hanna zurück gegen die Hauswand, und mit einer Hand ging er ihr an die Kehle. «Du verdammte Hexe, brennen sollst du. Hast dem Herren-Müller einen Fluch ins Korn gezaubert.»
Hanna boxte ihm in den Bauch, da ließ der Mann sie los.
«Lass sie in Ruhe!», kreischte eine Frau und stieß ihn beiseite. «Sie hat geweissagt, dass Blut an der Heilig-Kreuz-Reliquie klebt. Ihr alle wisst davon. Ich aber weiß von meinem Mann, dass sie auch Gesichte vom Antoniusfeuer gehabt hat!»
«So, und wer ist das?», fragte der Mann mit den zerrissenen Ohrenklappen.
«Hans Goltz, der Brauer, wenn Ihr es genau wissen wollt. Diese Frau lügt nicht. Sie ist keine Hexe!»
Hans Goltz’ Frau erntete nicht nur Zustimmung, vor allem Männer pfiffen sie aus. Ihre Pfiffe waren so schrill und laut, dass nicht nur die Frau, sondern auch Hanna sich die Ohren zuhielt. Zwei Männer
Weitere Kostenlose Bücher