Das Gesicht
Ihre Nerven waren so straff gespannt wie Rastazöpfchen, und ihr Verstand lief auf Hochtouren. Wie nie zuvor erinnerte der Duft des Jasmins sie an den Geruch von Blut.
Die Morde in der letzten Zeit waren so grausig gewesen und so rasch aufeinander gefolgt, dass sie nicht in der Lage war, sie in der Zeit, die sie für sich hatte, zu vergessen. Unter normalen Umständen war sie zu siebzig Prozent Bulle und zu dreißig Prozent Frau und Schwester; derzeit war sie ausschließlich Bulle, rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche.
Als Carson die Küche betrat, hatte Vicky Chou gerade die Spülmaschine eingeräumt und sie angestellt. »Ich habe mal wieder Scheiße gebaut.«
»Erzähl mir bloß nicht, du hättest die Schmutzwäsche in die Spülmaschine gepackt.«
»Schlimmer. Zur Rinderbrust habe ich ihm Karotten und Erbsen serviert.«
»Oh, niemals orange und grün auf demselben Teller, Vicky.« Vicky seufzte. »Er stellt beim Essen mehr Regeln auf als ein Veganer und ein orthodoxer Jude zusammen.«
Vom Gehalt eines Bullen hätte sich Carson keine Pflegerin leisten können, die ihren autistischen Bruder zu Hause betreute. Vicky hatte den Job gegen Kost und Logis angenommen – und aus Dankbarkeit.
Als Vickys Schwester Liane angeklagt worden war, gemeinsam mit ihrem Freund und zwei anderen an einem Mordkomplott beteiligt gewesen zu sein, hatte es so ausgesehen, als sei sie hoffnungslos in ein Netz von Indizienbeweisen verstrickt. Dabei war sie unschuldig. Während Carson die drei anderen hinter Gitter gebracht hatte, hatte sie Liane von jeglichem Verdacht entlastet.
Als erfolgreiche Phonotypistin medizinischer Fachtexte arbeitete Vicky bei freier Zeiteinteilung zu Hause und schrieb für Ärzte von Mikrokassette. Wenn Arnie ein schwierigerer Fall von Autismus gewesen wäre, hätte Vicky es vielleicht nicht geschafft, mit ihrer Arbeit nachzukommen, aber der Junge verhielt sich die meiste Zeit ruhig.
Vicky, inzwischen fünfundvierzig Jahre alt, war mit vierzig verwitwet. Sie war eine asiatische Schönheit, klug und bezaubernd und einsam. Sie würde nicht bis in alle Ewigkeit trauern. Eines Tages, wenn sie am wenigsten damit rechnete, würde ein Mann in ihr Leben treten, und das derzeitige Arrangement würde ein Ende finden.
Carson beschäftigte sich mit dieser Möglichkeit auf die einzige Weise, die ihr hektisches Berufsleben zuließ: Sie ignorierte sie.
»Wie lief es denn heute, abgesehen von grün und orange auf demselben Teller?«, fragte Carson.
»Er ist total auf die Burg fixiert. Manchmal scheint sie ihn
zu beruhigen, aber an anderen Tagen …« Vicky runzelte die Stirn. »Wovor fürchtet er sich bloß so sehr?«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich … vor dem Leben.«
Durch das Herausbrechen einer Wand, um zwei der Schlafzimmer im oberen Stockwerk miteinander zu verbinden, hatte Carson Arnie das größte Zimmer im ganzen Haus verschafft. Das erschien ihr nur gerecht, da sein Zustand ihn der übrigen Welt beraubte.
Sein Bett und sein Nachttisch waren in eine Ecke geschoben. Ein Fernseher stand auf einem Metallgestell mit Rollen. Manchmal sah er sich Zeichentrickfilme auf DVDs an, immer wieder dieselben.
Der Rest des Zimmers blieb der Burg überlassen.
Vier niedrige, robuste Tische bildeten eine Plattform, die zweieinhalb auf dreieinhalb Meter maß. Auf den Tischen stand ein architektonisches Wunder aus Legosteinen.
Nur wenige Jungen im Alter von zwölf Jahren hätten es geschafft, ohne Anleitung das Modell einer Burg zu bauen, doch Arnie hatte ein Meisterwerk errichtet: Mauern und Höfe, Bollwerke und Bastionen, Brustwehre und Schutzwälle, Geschütz- und Gefechtstürme, die Kaserne, die Kapelle, das Waffenarsenal, den Bergfried mit seinen Zinnen.
Er war schon seit Wochen von dem Modell besessen und widmete sich ihm in tiefstem Schweigen. Mehrfach hatte er fertige Bauabschnitte wieder eingerissen, aber nur, um sie umzugestalten und Verbesserungen vorzunehmen.
Die meiste Zeit war er auf den Füßen, während er weitere Anbauten vornahm – eine Einstiegsluke in der Anordnung der Tische erlaubte es ihm, nicht nur von allen Seiten, sondern auch von innen her zu bauen –, aber manchmal saß er so wie jetzt beim Arbeiten auf einem Hocker mit Rollen. Carson zog einen zweiten Hocker an den Tisch und setzte sich, um ihm zuzusehen.
Er war ein dunkelhaariger Junge mit blauen Augen, und schon allein sein Aussehen hätte ihm einen bevorzugten Platz in der Welt gesichert, wäre er nicht autistisch
Weitere Kostenlose Bücher