Das Gesicht
Tageszeitungen mit gängigeren Methoden über das Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu halten.
Tageszeitungen sind ihm unerträglich. Sie sind unhandlich. Die Sparten geraten durcheinander, die Seiten wollen nicht in der richtigen Reihenfolge bleiben.
Noch schlimmer ist die Druckerschwärze. Die Druckerschwärze bleibt an seinen Händen haften, als sei sie selbst die schmutzige Unordnung der Welt.
Mit genug Seife und heißem Wasser kann er im Badezimmer, das an seine Kammer grenzt, die Druckerschwärze abwaschen, aber gewiss sickert ein Teil davon in seine Poren und von dort aus in den Blutstrom. Auf diese Weise ist eine Zeitung wie ein Krankheitsüberträger, der ihn mit der Unordnung der Welt infiziert.
Zwischen den Zeitschriften in der Schublade befindet sich jedoch auch eine Geschichte, die er vor drei Monaten aus einer Regionalzeitung herausgerissen hat. Dieser Artikel gibt ihm Hoffnung.
In dem Bericht geht es um eine hiesige Organisation, die Forschungsmittel beschafft, um eine Behandlung für den Autismus zu finden.
Wenn man sich an die strengste Definition der Krankheit hält, könnte es sein, dass Randal sechs nicht an Autismus leidet. Aber er leidet an etwas, was diesem betrüblichen Zustand sehr ähnlich ist.
Da Vater ihn nachdrücklich dazu ermutigt hat, als ersten Schritt auf dem Wege der Heilung zu einem besseren Verständnis seiner selbst zu finden, liest Randal Bücher zu diesem Thema. Sie vermitteln ihm nicht das Gefühl von Frieden, das er in Kreuzworträtseln findet.
Während seines ersten Lebensmonats, als noch nicht ganz klar war, was mit ihm unter Umständen nicht stimmt, und er Tageszeitungen noch ertragen konnte, hat er etwas über die hiesige wohltätige Einrichtung zur Autismusforschung gelesen und sich selbst in der Beschreibung dieses Leidens augenblicklich wiedererkannt. In dem Moment ist ihm klar geworden, dass er nicht allein dasteht.
Und, was noch wichtiger ist, er hat ein Foto von einem wie ihm gesehen: ein zwölfjähriger Junge, der gemeinsam mit seiner Schwester fotografiert worden ist, einer Polizeibeamtin in New Orleans.
Auf dem Foto schaut der Junge nicht in die Kamera, sondern
seitlich daneben. Randal sechs erkennt dieses Sich-Entziehen.
Das Unglaubliche ist jedoch, dass der Junge lächelt. Er macht einen glücklichen Eindruck.
Randal sechs ist nie glücklich gewesen in den vier Monaten, seit er als Achtzehnjähriger aus dem Schöpfungstank gekommen ist. Kein einziges Mal. Keinen Moment lang. Gelegentlich fühlt er sich einigermaßen sicher … aber nie glücklich.
Manchmal sitzt er stundenlang da und starrt den Zeitungsausschnitt an.
Der Junge auf dem Foto ist Arnie O’Connor. Er lächelt.
Vielleicht ist Arnie nicht die ganze Zeit über glücklich, aber manchmal muss er glücklich sein.
Arnie ist im Besitz von Wissen, das Randal braucht . Arnie hat ein Geheimnis. Er kennt den Schlüssel zum Glück. Diesen Schlüssel braucht Randal so dringend, dass er nachts wach liegt und verzweifelt versucht, sich etwas einfallen zu lassen, wie er an diesen Schlüssel kommen kann.
Arnie ist in dieser Stadt, so nah. Und doch ist er praktisch unerreichbar.
In den vier Monaten seines Lebens ist Randal sechs nie außerhalb der Mauern der Barmherzigkeit gewesen. Allein schon, für Behandlungen in ein anderes Stockwerk dieses Gebäudes gebracht zu werden, ist traumatisch.
Ein anderes Viertel von New Orleans ist für ihn so unerreichbar wie ein Krater auf dem Mond. Arnie lebt mit seinem Geheimnis und ist unerreichbar.
Wenn Randal es schafft, zu dem Jungen zu gelangen, wird er das Geheimnis des Glücks erfahren. Vielleicht wird Arnie es ihm nicht verraten wollen. Aber das macht nichts. Randal wird es aus ihm herausholen. Randal wird an dieses Geheimnis kommen.
Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Autisten ist Randal
sechs zu extremer Gewalttätigkeit fähig. Seine innere Wut ist fast so groß wie seine Furcht vor der unordentlichen Welt.
Seinen Hang zur Gewalttätigkeit hat er vor allen verborgen gehalten, sogar vor Vater, denn er fürchtet, wenn das bekannt wird, wird ihm etwas Übles zustoßen. Er hat an Vater eine gewisse … Kälte bemerkt.
Er legt das Foto wieder in die Schublade zurück, unter die Zeitschriften. Vor seinem geistigen Auge sieht er immer noch Arnie, den lächelnden Arnie.
Arnie ist irgendwo dort draußen, in New Orleans, und übt auf Randal sechs eine so starke Anziehungskraft aus wie der Mond auf das Meer.
13
In der kleinen, schwach erleuchteten
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