Das Gespenst der Nacht
mal fragen, wie diese Melissa Hunter zuletzt ausgesehen hat, als Sie ihr gegenübergestanden haben?«
»Nicht jung.«
»Aha. Das heißt, sie braucht frisches Blut, um wieder einigermaßen auszusehen.«
»Ja.« Liane schnippte mit den Fingern. »Falls sie es sich nicht schon geholt hat.«
»Okay«, erwiderte Bill. »Ich stimme eurem Plan zu. Aber ich kenne zwei Typen, die im Hintergrund bleiben und die Augen offen halten werden.«
Damit war alles gesagt …
***
Susan Winter erwachte!
Sie tat nichts. Sie blieb einfach nur liegen und beschäftigte sich mit sich selbst. Sie hatte das Gefühl, einen langen Schlaf hinter sich zu haben.
Sie lag nicht in einem Bett, sondern auf dem Boden. Und es ging ihr nicht mal schlecht. Sie fühlte sich nur ein wenig matt, und sie wusste auch, dass mit ihr etwas passiert war.
Tot bin ich nicht!, dachte sie. Nein, ich bin nicht tot. Aber ich weiß auch nicht, was ich bin. Sie versuchte, in sich hineinzuhorchen, und sie stellte sich die Frage, was wirklich mit ihr geschehen war.
Es gab da eine Erinnerung. Leider war sie sehr schwach, und Susan musste sich schon stark konzentrieren, um wenigstens etwas herauszufinden.
Ja, sie war nicht allein gewesen. Es war noch jemand bei ihr gewesen, und zwar dicht an ihr. Sie war zu einer anderen Person geworden, obwohl sie noch immer die Gleiche war. Auch das war interessant, und sie dachte darüber nach, während sie sich bewegte.
Ihr tat auch nichts weh.
In ihrem Innern hatte sich auch nichts verändert – oder doch? Von einem Augenblick zum anderen durchzuckte sie der Gedanke und es gab ihr einen Stich.
In ihr war alles still. Es gab keine Bewegung mehr, und genau das störte sie.
Oder doch nicht?
Es ging ihr nicht schlecht, sie musste keine Angst haben, dass ihr etwas passierte, das sagte ihr eine innere Stimme. Und doch störte sie etwas.
Man konnte von der absoluten Ruhe sprechen, und das war ein Störfaktor. Sie hörte nichts mehr, auch nicht ihren eigenen Herzschlag.
Das war es!
Aber es gab noch etwas, das sich verändert hatte. Sie existierte, ohne dass sie ein einziges Mal hatte Luft holen müssen, und das war ein Phänomen.
Sie richtete sich auf. In der sitzenden Haltung blieb sie und schaute sich um. Es war nichts zu sehen. Es gab nur die Dunkelheit, die ihr aber nichts ausmachte. Im Gegenteil, sie war sogar froh darüber, in dieser Schwärze sitzen zu können. Da erholte sie sich wenigstens.
Und dann gab es noch etwas, das für sie völlig neu war. Sie spürte den leichten Druck an ihrem oberen Gebiss und zögerte nicht lange, um zu ertasten, was sich dort befand.
Es waren die Zähne.
Aber zwei von ihnen hatten sich verändert, sie waren gewachsen und zum Ende hin spitz zugelaufen. Neue Zähne, die aus alten entstanden waren. Sie hatten sich verwandelt, und sie dachte noch einen Schritt weiter. Wer derartige Zähne hatte, der war kein normaler Mensch mehr, sondern einer, der nur noch so aussah.
Und sie erlebte noch etwas.
In ihrem Innern breitete sich ein Druck aus, der mehr einem Drang glich. Sie brauchte etwas. Es war wichtig. Es musste sein und es war neu.
Sie schnalzte mit der Zunge, ließ sie auch vor ihren Lippen mit der Spitze kreisen und zog sie wieder zurück.
Der Drang war da.
Eigentlich mehr eine Gier. Sie wollte etwas haben, wonach sie gierte, das sie auch brauchte. Es war Nahrung. So weit war sie mit ihren Gedanken bereits gekommen. Eine Nahrung, die sie holen musste und die sie in ihrem ersten Leben niemals im Betracht gezogen hatte. Jetzt allerdings schon.
Die Nahrung hieß Blut!
Und nicht nur das. Blut, das wäre zu einfach gewesen. Susan Winter präzisierte es, indem sie das Wort flüsterte.
»Menschenblut …«
Ja, das war es. Das Blut der Menschen. Deren süßen Lebenssaft. Ihn trinken, ihn genießen, ihn schlürfen. Es sich mit ihm gut gehen lassen.
Sie nickte. In der Dunkelheit sah sie niemanden. Sie spürte nur, dass die Schwäche zwar noch blieb, aber stark nachgelassen hatte. Der Gedanke an Blut hatte sie innerlich aufgeputscht.
Dann gab sie sich einen Ruck und stand auf. Das geschah mit einer geschmeidigen Bewegung. Als sie stand, war wieder alles okay. Sie erlebte keinen Schwindel, ihr wurde nicht übel, sie fürchtete sich auch nicht vor der Dunkelheit, die sie umgab.
Aber sie wollte etwas erkennen können. Dafür musste die Dunkelheit vertrieben werden. Ob der Raum, in dem sie sich befand, kalt oder warm war, das konnte sie nicht sagen. Dafür hatte sie kein Gefühl.
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