Das Gespenst der Nacht
Tee ein. Liane schaute ihm dabei zu, und ihr Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen. Sie wusste sehr gut, in welcher Gefahr sie schwebten. Trotz der Wärme spürte sie das kalte Rieseln auf ihrem Rücken.
Wenn ihr Blick an Johnny vorbei glitt, traf er das Fenster. Durch die Scheibe schaute sie nach draußen, sah dort die Schneeflocken, die golden schimmerten, wenn sie in das Streulicht einer Lampe gerieten.
»So, dein Tee …«
»Danke.« Liane nahm die Tasse entgegen und stellte sie dann auf den niedrigen Tisch. Sie blies noch einige Male gegen die Oberfläche und nahm erst dann die ersten kleinen Schlucke, wobei sie lächelte und Johnny zunickte.
»Ja, der Tee ist sehr gut.«
»Danke.«
Sie räusperte sich und schaute gegen die Decke. Dabei wischte sie eine Haarsträhne aus ihrer Stirn, bevor sie die Frage stellte, die sie loswerden musste.
»Was denkst du, Johnny? Wie wird es weitergehen? Wie lange kann es dauern, bis wir wieder von einer Normalität sprechen können? Kannst du das sagen?«
»Nein.«
»Und was ist normal?«
»Gute Frage, Liane. Bei mir ist sogar das Unnormale normal. Und dir wird es kaum anders ergehen.«
»Möglich.«
»Dann denk mal an Kain.«
»Das ist zum Glück vorbei. Aber es hat mir die Augen geöffnet. Ich glaube fest daran, dass diese Melissa Hunter etwas Besonderes ist.«
»Kennst du sie denn gut?«
»Nein. Aber gut genug, um zu wissen, dass mit ihr etwas nicht stimmt.«
»Aha. Und sie weiß auch, dass du darüber informiert bist.«
»Das kann durchaus sein.«
»Dann bist du in Gefahr.«
»Will ich nicht hoffen, aber damit rechnen muss ich schon.« Sie schloss für einen Moment die Augen, sprach aber weiter. »Ich kann nur hoffen, dass John Sinclair und dein Vater Glück bei ihrer Suche haben. Das wäre toll.«
»Hoffe ich auch.«
»Und warum rufen sie nicht an und geben Bescheid?«
Johnny lachte kurz auf. »Das weiß ich nicht. Keine Ahnung, wirklich. Ich kann mir vorstellen, dass sie noch andere Dinge zu erledigen haben, die wichtiger sind. Wären sie einen Schritt weiter gekommen, hätten sie bestimmt angerufen. Davon bin ich überzeugt.«
»Du kennst sie besser.«
»Eben.«
Liane griff wieder zur Tasse und trank einen Schluck. Johnny hatte sie ja auch als Sängerin erlebt. Da war sie ganz anders gewesen. Da stand sie sehr im Vordergrund, da hatte sie auch ein völlig anderes Outfit angehabt. Sie war eine wilde Person gewesen, doch jetzt sah sie normal aus.
Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit hoch stehenden Wangenknochen. Eine etwas zu breite Stirn, eine gerade Nase, ein Mund mit vollen Lippen.
»Tja, es wird wohl auf die nächste Nacht ankommen«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Das kann sein.«
»Und sonst sagst du nichts dazu?«
Johnny überlegte kurz. Dabei lächelte er. »Ich bin immer ein Optimist gewesen und werde es auch weiterhin sein. Deshalb glaube ich nicht, dass die andere Seite stärker ist als wir.«
»Das sagst du nur so.«
»Nein, das meine ich wirklich so. Wir dürfen den Mut nicht verlieren.«
»Okay.«
»Und man kann es hier aushalten oder nicht?«
Sie legte den Kopf zurück und lachte. »Das hier ist ein Schloss, wenn ich es mit dem vergleiche, was ich erlebt habe und woher ich komme.«
»Und woher kommst du?«
»Ach, von recht weit unten. Ich habe schon in der kurzen Lebenszeit einiges hinter mir, bis ich dann meine Stimme entdeckte und auch die Leute kennenlernte, zu denen ich Vertrauen haben konnte. Ich wurde dann als Sängerin aufgenommen.«
»Das war ja gut.«
»Hatte ich auch gedacht. Aber dann kam alles anders. Ich kam nicht damit klar, dass sich Kain dem Teufel verschrieben hatte. Aber jetzt weiß ich leider Bescheid.«
»Stimmt.«
Jemand klopfte gegen die Tür. Es war Sheila, die wenig später über die Schwelle trat. Sie bemühte sich um ein Lächeln und nickte den beiden zu.
»Alles in Ordnung bei euch?«
Johnny gab die Antwort. »Ja, das ist es.«
»Schön.«
»Und bei dir?«
»Auch.«
»Dann hat Dad noch nicht angerufen?«
»So ist es. Er und John scheinen noch aktiv zu sein, ich will sie aber auch nicht stören.«
»Das geht schon in Ordnung.«
»Kann ich für euch sonst noch etwas tun? Wollt ihr was essen oder trinken?«
Johnny fragte seine Besucherin. »Willst du was?«
»Nein, danke. Der Tee genügt mir.«
»Mir auch, Ma.«
Sheila nickte. »Okay, dann ziehe ich mich mal wieder zurück. Ich denke schon, dass Bill oder John bald anrufen. Sie halten immer, was sie
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