Das Geständnis der Amme
selbst das musstest du nicht tun, keiner zwingt dich, du hast den Status von Balduins Mutter inne –, ja, sag mir: Warst du dem Herrn im Himmel nicht dankbar dafür, dass deine frühere Familie abgeschlachtet wurde und du eine bessere bekommen hast?«
Sie löste sich behände von der Wand, kniete sich vor das Feuer. Die Flammen spiegelten sich in ihren Augen und färbten sie noch gelber. Heiß musste es in ihr Gesicht steigen – und nicht minder hitzig zeigte sich der Grimm, der Johanna erfasste, ihre Empörung, vor allem ihre Panik. Dass Madalgis es wagte, in ihren Erinnerungen zu stöbern!
Jene Erinnerungen hatten an Macht verloren, aber sie hatte nie aufgehört, vor ihnen Angst zu haben, auch dann noch nicht, als sie sie nicht länger in ihren Träumen verfolgten. Sie schienen morsch geworden zu sein, und manchmal bezweifelte sie, dass sie noch ernsthaft von ihnen erschlagen werden konnte. Sie würden ja doch nur zerbröseln, wenn sie nach ihnen fasste, würden als staubiger Ascheregen über sie rieseln, schmutzig, aber nicht tödlich. Doch ungeachtet, wie bedrohlich sie waren – Madalgis stand es ganz gewiss nicht zu, daran zu rühren.
»Du widerwärtiges …«
»Halt ein!«, Madalgis erhob sich lautlos. »Vor mir musst du dich nicht verteidigen, ich verstehe dich doch. Ich selbst hätte alles gegeben, um keine kleine, dreckige Leibeigene mehr zu sein. Nur frage ich mich, wenn du jetzo von einer Ordnung sprichst, die du Graf Balduin auferlegen möchtest – ist's nicht so, dass du ihm diese Pflicht nur darum zuweist, weil du sie selbst nicht erfüllen konntest? Weil dein Gram um das Verlorene geringer ist als das Glück, das du stattdessen gefunden hast?«
»Und du selbst?«, gab Johanna giftig zurück. »Hast du genug bekommen für das, was du verloren glaubst? Macht es dir Freude, Judith und Balduin in trauter Eintracht zu sehen – ihn, von dem du denkst, er habe dich zerstört, und sie, von der du glaubst, sie habe dich errettet?«
Madalgis schüttelte den Kopf, und es war die erste Regung, die heftig ausfiel. »Es tut mir nicht weh«, erklärte sie verbissen.»In Judiths Herz ist kein Platz für Balduin. Und an dem Tag, da er es erkennt, wird er wissen, wie ich mich gefühlt habe.«
Johanna hatte den Mund schon zur Widerrede geöffnet, doch dann hielt sie inne. Irgendetwas war an dem Mädchen und seinen Worten, das sie nicht nur verärgerte, sondern ängstigte. Nicht, weil sie sie nicht verstand, nicht, weil sie sich nicht Gleiches wünschte – wenn auch aus anderen Gründen –, sondern weil der Groll wider diese Beziehung bei dem Mädchen ein Stück weiter zu gehen schien und in eine Tiefe reichte, in die Johanna nicht hinabsehen wollte.
»Was ist?«, drängte Madalgis. »Keine Beleidigungen mehr?«
Johanna fühlte, wie sie fror. »Es ist nicht gut, dass wir uns streiten«, stellte sie fest, und sie hoffte, dass sie nüchtern klang, nicht feige. »Wie es scheint, bleiben wir noch für eine Weile zusammen.«
»Du wirst also mitreisen nach Rom«, stellte Madalgis ruhig fest.
Johanna nickte und hoffte, vor Madalgis die widerstreitenden Gefühle verbergen zu können, die der Gedanke an die Reise in ihr auslöste. Tatenlos nach Laon zurückzukehren und dort der Dinge zu harren deuchte sie unerträglich. Ihr graute davor, Balduin zu verlieren, wenn sie sich nicht hartnäckig an ihn heftete. Doch zugleich war ihr die Vorstellung widerwärtig, ihn traulich vereint mit Judith sehen zu müssen und dieses verrückte, vielleicht auch sinnlose Abenteuer mit ihm zu bestreiten. Selten war sie in einer Sache so uneins mit sich selbst gewesen, selten so zerrissen von ehrlicher, tiefer Mutterliebe, die sie einst davor bewahrt hatte, an der eigenen Vergangenheit zugrunde zu gehen, und nagendem Zweifel, wonach es vielleicht besser wäre, nichts mit Balduin zu tun zu haben, solange er entgegen ihrem Trachten handelte.
»Ich nehme an, dass auch du nicht von Judiths Seite weichen wirst«, sagte sie, um davon abzulenken.
Madalgis' Nicken geriet entschlossener als eben ihr eigenes. »So ist es. Laon ist längst keine Heimat mehr für mich; ich willnicht mehr dorthin zurückkehren. Judith war es, die mich gerettet hat. Nur an Judiths Seite kann ich leben.«
»Und die dumme Joveta?«, fragte Johanna barsch.
Madalgis zuckte die Schultern. »Ihr wird nichts anderes übrig bleiben, als die gleiche Entscheidung zu treffen und sich dem Zug anzuschließen. Wüsst' nicht, dass es einen Ort gäbe, wo sie hingehen könnte.
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